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Attributionsfehler: Den Patient und sein Wohl in den Blick nehmen

von Mrz 12, 2018Impulsgeschichten

Vom Hinweisschild zur Handhygiene bis zum Patientenfoto: Studien zum fundamentalen Attributionsfehler zeigen, wie wichtig es ist, in der Sinnfrage für Kliniker immer wieder das Wohl des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Um die Illusion der eigenen Unverwundbarkeit zu überwinden. Das Patientenwohl in das Zentrum des Handelns zu setzen, ist ein natürliches Anliegen für Kliniker. Zwei eindrückliche Studien zum fundamentalen Attributionsfehler zeigen, warum es so wichtig ist, immer wieder die Sicht des Patienten einzunehmen und sie für die Veränderung von eigenem Verhalten zu nutzen. Den Patienten in den Fokus zu nehmen und so intrinisische Motivatoren von Klinikern zu triggern.

 

Hinweisschilder – Handhygiene für den Patienten

Die 1. Studie stammt von dem Psychologen Adam Grant (zum Reinhören „Give or Take ). Bei der Geburt seiner Tochter fielen Adam Grant im Krankenhaus die Hinweise zur Handhygiene auf. Mit den Schildern sollten die Mitarbeiter sensibilisiert werden, dass sie sich durch Händewaschen vor Krankheiten und Ansteckung schützen. Seiner Sicht nach war das eine nur wenig Erfolg versprechende Strategie. In der Psychologie ist das als Phänomen der „Illusion der eigenen Unverwundbarkeit“ (Ego Bias) bekannt. Allen kann etwas zustoßen – nur für uns selbst ziehen wir den Fall nicht in Erwägung. Wir unterschätzen unser Risiko und halten uns für besser und unverwundbarer als der Durchschnitt. Ein fundamentaler Attributionsfehler. Dieser wirkt auch bei Klinikern. Denn wer glaubt, Bakterien und Keime können ihm nichts anhaben, der desinfiziert sich seine Hände weniger sorgfältig als nötig.

Daher stellte sich Adam Grant die Frage, ob man das Phänomen umgehen kann, indem man statt auf das eigene Wohl auf das Wohl des Patienten fokussiert. Und so installierte er in einer Klinik in den Personal- bzw. Arbeitsräumen Seifen- und Desinfektionsspender mit Messgeräten. Versehen wurden diese mit zwei verschiedenen Schildern. Die Hälfte der Spender waren beschildert mit „Ihre Hände zu reinigen hilft Ihnen, gesund zu bleiben.“ Auf den anderen war ein Schild mit dem Satz: „Ihre Hände zu reinigen hilft Ihren Patienten, gesund zu werden.“ Der Effekt war eindrucksvoll. Wer auf das 2. Schild sah, reinigte seine Hände 10% häufiger. V. a.: Die Intensität der Reinigung erhöhte sich. An den Spendern wurden 45% mehr Seife und Desinfektionsmittel verbraucht. Wenn das Handeln dem Wohl der Patienten dient, sind klinische Mitarbeiter viel stärker intrinsisch motiviert das eigene Verhalten zu ändern.

 

Patientenfoto – immer den Patienten vor Augen halten

Die zweite Studie von Radiologen aus Israel nutzt für ihr Experiment keine Hinweisschilder, sondern Patientenfotos: Dr. Yehonatan N. Turner am Shaare Zedek Medical Center in Jerusalem habe bemerkt, dass er Leber und Milz vieler Patienten kenne, nicht aber die Menschen. Und so fragte er sich, ob ein Foto ihm helfen könnte, mehr Bezug zum Patienten herzustellen. Und ob das bei ihm und seinen Kollegen etwas verändere. Er initiierte eine Studie dazu und bat seine Patienten um die Erlaubnis, Fotos von ihren Gesichtern zu machen, um sie mit den CT Scans an Kollegen weiter zu reichen. Er bekam 318 Mal die Erlaubnis und reichte die CTs an insgesamt 15 Radiologen. Wenn diese die Daten eines Patienten öffneten, erschien nun auch dessen Foto. Dem Wissenschaftler fiel auf, dass die Kollegen mehr Empfehlungen verfassten, nun da die Scans zu Menschen zugeordnet waren.

In der Tat entdeckten die Radiologen bei 81 CTs Auffälligkeiten, nach denen sie initial gar nicht gesucht hatten. Turner bewahrte die 81 CTs auf und legte sie den 15 Radiologen nach 3 Monaten noch einmal anonym – ohne Foto – zum Befunden vor. Das Ergebnis war deutlich: 80% der früheren Zufallsergebnisse wurden dieses Mal nicht entdeckt. In der Hektik des Alltags laufen wir Gefahr, unsere Wahrnehmung einzuengen und das „warum“, “wozu” oder „für wen“ aus den Augen zu verlieren. Das Experiment von Turner zeigt, welche positiven Auswirkungen es haben kann, wenn wir den Menschen als Gegenüber mehr in den Blick nehmen. Gerade im Patientenkontakt gilt es immer wieder, den Menschen hinter dem Problem zu sehen. Dr. Turner hat sich einen Weg überlegt, um für sich den Menschen fassbarer zu machen. Die Qualität der Ergebnisse wurde damit signifikant besser.

Es gilt, nicht der Gefahr des Ja-Aber-Spiels und damit dem Austausch von Argumenten zu verfallen, wenn man die Bedürfnisse auf den Tisch bringen will. Sondern selbst geklärt, die eignen Bedürfnisse einen Moment hinten anzustellen und die Bedürfnisse des andern empathisch in den Blick zu nehmen. Um sich aufrichtig mitteilen zu können, ist zunächst Empathie für die Bitte zu geben. So dass der Bittende die Sicherheit bekommt, gesehen und gehört zu werden. Zu zeigen, dass man die Bitte gehört hat und welche empathische Vermutung zum Wozu – als Frage oder Konjunktiv formuliert – man dazu hat.

 

7. Niemand kann Empathie geben, bevor er nicht selbst Empathie bekommen hat

Eine konkrete Bitte ist eine Strategie, die zunächst die Bedürfnisse des Fragenden in den Blick nimmt. In der GFK ist die Bitte nur verstehbar, wenn sie in Zusammenhang mit den dahinter stehenden Gefühlen und Bedürfnissen geäußert wird. Wer eine Bitte äußert will etwas ändern. Die Gewaltfreie Kommunikation kennt unterschiedliche Arten von Bitten auf Ebene der Strategie. Ihr Fokus liegt dabei darauf, in Verbundenheit miteinander zu sein.

  • Handlungsbitten: sind Bitten um eine bestimmte Handlung oder um ein inhaltliches Feedback (oft um zu schnellen Lösungen zu kommen)

  • Beziehungsbitten: sind Bitten um eine einfühlsame Reaktion, um eine Mitteilung, was beim anderen angekommen ist oder wie es ihm damit geht, was er dabei empfindet. Es geht dabei als darum, dem Fühlen Raum zu geben.

Es git zunächst, das Bedürfnis des Bittenden hinter seiner Bitte genauer zu ergründen. Emphatische Vermutungen dürfen dabei nicht auf Gedanken abstellen, sondern das Fühlen adressieren. Schnell werden im Eifer des Gefechtes Gefühle mit Gedanken oder gar Vorwürfen verwechselt. Das aber zerstört jeden Kooperationswillen. Selbst wenn eine Handlungsbitte geäußert wurde, kann es sein, dass der Anfrager das Nein nicht in der Sache, sondern (1.) auf der persönlichen Ebene hört, als Absage an die Beziehung. Und dass er (2.) so in seine Bedürfnisse verstrickt ist, dass er kein Ohr für die Antwort hat und ein Nein (noch) nicht empathisch hören kann. Dann war die Fähigkeit offen mit einer Antwort umgehen zu können, nicht gegeben.

Eine echte Bitte im Dialog muss mit einer offenen Entscheidung – ja oder nein – umgehen können, sonst ist es keine. Dann braucht der Antwortende nicht mit einem Nein und seinen Bedürfnissen anfangen. Vielmehr gilt es nun erst einmal, um die Beziehung zu halten, die eigenen Bedürfnisse einen Moment zu parken und die Bedürfnisse hinter der Bitte in den Blick zu nehmen. Der Bittende braucht so lange Einfühlung, bis er sich entspannt hat. Die Zeit zum Nachspürenlassen, ob es im Hier und Jetzt gut ist, Zuhören, Raum halten. Wenn der Bittende in seinen Konflikt nicht so reflektiert ist, sich selbst Einfühlung zu geben, braucht er die Empathie des Zuhörers.  Sich auf der Ebene seiner Bedürfnisse gehört zu fühlen, lässt spüren, dass ich dem anderen wichtig bin. Menschen sind oft erst in der Lage, empathisch auf die Bedürfnisse anderer zu reagieren, wenn sie selbst Empathie bekommen haben.

 

8. Empathisch Zuhören bevor man sich aufrichtig mitteilen kann

Marshall B. Rosenberg erkannte: „Empathisch mit dem Nein des anderen zu sein, schützt uns davor, es persönlich zu nehmen.“ 

In der GFK gibt es keine Abkürzung als sich in die Bedürfnisse beider Seiten einzufühlen. Das ist das, was in Menschen lebendig ist. Ein Ansatz Nein zu sagen und gleichzeitig in der Verbundenheit zu bleiben, ist daher, nicht nur das eigene Nein gut zu erklären, sondern sich auch die Zeit zu nehmen, eine andere Strategie im Hier und Jetzt mit dem Anfrager zu entwickeln. Solange gemeinsam einen Weg zu erkunden, wie die dahinterliegende Bedürfnis beider Seiten erfüllt werden können. Immer wieder offen nachfragen, was der andere verstanden hat, wie es ihm damit geht und was er braucht. Hier sind mitunter mehrere Runden zu drehen, die gegenseitigen Bedürfnisse zu spiegeln und eine gemeinsame Synthese zu finden. Diese Aufarbeitung im offenen Dialog kann Zeit benötigen, die nicht immer da ist. Sie hat das potenzial die Verbundenheit trotz des initialen Neins zu stärken.

Auf Ebene der mit der Bitte vorgeschlagenen Strategie gibt es kein Commitment. Das muss aber nicht heißen, dass es keine andere gemeinsam getragene Lösung gibt. So gesehen bleibt es beim autonomen Nein zur anfänglichen Bitte, die nicht für beide Seiten stimmig ist. Aber der Dialog endet immer mit einem Ja zur Verbindung  durch achtsame Anerkennung der Bedürfnisse aller Seiten. Im dialogischen Austausch selbst liegt dann eine neue tiefe Beziehungerfahrung. Statt im Widerstand und In Negativität zum Nein bzw. zur Bitte zu sein, wird kein Leid erschaffen, sondern es entsteht eine höhere warme Herzensenergie, indem beide miteinander mit ihrer Lebendigkeit in Kontakt kommen.

 

9. Umgang mit Blockaden

Gehört zu werden im Anliegen schafft Öffnung auch für Anliegen des anderen. Selbst wenn ich diese Verbundenheit will, sich gegenseitig in seinen Bedürfnissen zu sehen und Lösungen zu finden, ist das nicht immer sofort möglich:

  • Ich bin selbst nicht in meiner Kraft und in der Lage mich auf den Klärungsprozess einzulassen. 

  • Man hat sich in ein Ja-Aber-Gefecht mit Urteilen, Drohung, Schuldvorwürfe und Urteile so- verfahren, dass im Moment nicht auf die Ebene der Bedürfnisse vorzudringen ist. Obwohl im Grunde jeder nur darum kämpft, mit seinen Bedürfnissen gesehen zu werden.
  • Die Beteiligten brauchen Zeit zum Nachspüren, bevor die gemeinsame Lösung sich entwickeln kann.

Bei solchen Blockaden hilft erst einmal der Ausstieg aus der Situation mit ehrlichem Bedauern und Dankbarkeit für die Ehrlichkeit. Für den Moment tritt jeder für sich ein und man lässt die Differenz stehen ohne sie persönlich zu nehmen. Ein Wiederanschließen ist dann leichter zu einem späteren Zeitpunkt aus Distanz zu den kraftraubenden Emotionen möglich. 

Die Aufrichtigkeit des Neins braucht Empathie für beide Seiten. Das gibt die Sicherheit, einander zu hören und anzuerkennen. Dahinter steck eine enorme Kraft der Verbundenheit: Die Bedürfnisse werden ins Leben geholt und schaffen lebendige Beziehungen. In dieser Haltung fließt jedes Einstehen für sich selbst letztlich sogar in eine Vertiefung der authentischen Verbindung zwischen Menschen.

So steht am Ende der Bitte das Danke.

    [1] Ein authentisches Anschauungsbeispiel ist die Milchtütenbitte von Iris und Jürgen. Im langsamen Dialog mit laufender Rückkopplung an die Bedürfnisse beider zeigen sie, wie es gelingt, die eigenen Bedürfnisse und die Reaktanz des anderen darauf anzusprechen und – in der Haltung, gegenseitig verbunden bleiben zu wollen und sich die Zeit zu nehmen- die Beziehung in der Akzeptanz der gegenseitigen lebendigen Bedürfnisse zu vertiefen. Die Kunst ist, keinen Vorwurf zu hören, sondern die Selbstkundgabe.

    [2] Axiom der GFK: Bedürfnisse sind universal gültig, insbesondere unabhängig von Person, Zeit und Ort, sonst sind es Strategien.


     

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