Die folgende Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral von Heinrich Böll (1917-1985) von 1963 ist heute ein Klassiker der Gesellschaftskritik.[*] Böll gilt als bedeutender deutscher Schriftsteller der Nachkriegszeit und war für seine schonungslosen Kurzgeschichten bekannt.
In einem Hafen an der Westküste Europas schläft ein arm gekleideter Fischer. Er wird durch das Klicken des Fotoapparates eines Touristen geweckt. Der Tourist fragt den Fischer, warum er nicht draußen auf dem Meer sei und fische? Es sei so ein toller Tag, um einen guten Fang zu machen?
Der Fischer gibt keine Antwort und der Tourist denkt sich, dass es dem Fischer nicht gut gehe. Er fragt nach, doch der Fischer hat nichts zu beklagen. Nochmals hakt der Tourist nun nach, warum er denn nicht hinausfahre? Nun antwortet der Fischer, er sei schon fischen gewesen und habe so gut gefangen, dass es ihm für die nächsten Tage reiche. Der Tourist meint, dass der Fischer noch zwei-, drei- oder gar viermal hinausfahren und sich ein Geschäft aufbauen könnte. Er können auch das Wachstum noch weiter steigern und sogar das Ausland mit seinem Fisch beliefern. Dann hätte der Fischer genug verdient, um am Hafen zu sitzen und sich entspannen zu können.
Der Fischer entgegnet gelassen, am Hafen sitze und entspanne er sich doch jetzt schon. Der Tourist geht nachdenklich und eigentlich ein wenig neidisch weiter.
Kritik an der Wachstumsökonomie
Anekdotisch und provokant trägt Böll seine Gesellschaftskritik zum Tag der Arbeit vor. Der Tourist verkörpert den schicken Aufsteiger der Zeit: Wirtschaftlicher Erfolg ermöglicht ihm Bildung und Urlaub im Ausland. Das sorglose Sein des einfachen Fischers steht dazu in Kontrast. Materialismus und Aktionismus werden deutlich – man gönnt sich selbst in der arbeitsfreien Zeit keine Ruhe und Entspannung. Böll bedient sich der satirischen Übertreibung, um Erkenntnis heraus zu polarisieren. Die Metapher wird so eine Antithese zum Zeitgeist und verspottet die Wachstumsökonomie, die naive Gläubigkeit in unbegrenztes Wachstum und den vermeintlich Sicherheit stiftenden, übermäßigen Arbeitseifer. Der Fischer nimmt den Postmaterialismus vorweg und rückt den Sinn ins Bewusstsein: Der Mensch lebt nicht, um zu arbeiten. Darin verfehlt er seinen Lebenssinn.
Die angestoßenen Systemkritiken und Fragen haben in der Krise der Gegenwart nichts an Aktualität verloren. Unsere Wachstumsökonomie schafft katastrophale kollektive Ergebnisse. Mit Phänomen wie Klimaerwärmung, (in Kriegen) eskalierende weltweite Konflikte, KI-getriebene Social Media Propaganda der Spaltung. Dahinter steckt ein Mindset von Ego- und Silodenken, das letztlich die Dynamiken von Stress, Gewalt und Zerstörung anheizt. Es ist uns als Gesellschaft geboten, jetzt zu sehen, wie rapide dies die verbundenen Systeme an den Kipppunkt fährt. Wenn wir die reale Entwicklung vom Ende her sehen, kommen wir kaum umhin, unsere gemeinsame Verantwortung für eine lebenswerte Zukunft aller hier und jetzt annehmen. Vom ich zum wir. Die planetarische Not können wir kaum lösen, ohne unsere Gewohnheiten zu ändern.
Wenn du willst, dass sich etwas ändert, tue es im Kleinen selbst
Es gilt, unsere Rolle, unsere Beziehungen, unsere ökonomischen Systeme zu transformieren. Die gegenwärtige Senkung der Arbeitsmoral unserer Postcorona Zeit beinhaltet so sicher auch eine Chance auf echte Transformation: Was ist das Wenige, was der Einzelne und die Gesellschaft am Ende wirklich brauchen? Der schlichte Fischer in Bölls Anekdote war uns in puncto Reflexion und Regeneration sich erschöpftender Ressourcen wohl schon Jahrzehnte voraus…