Rashōmon ist ein Film aus 1950 vom Regisseur Akira Kurosawa.[1] Im Kontext der schweren Verbrechen Vergewaltigung und Mord in der traditionellen japanischen Kultur wird die Unmöglichkeit von Objektivität und die Relativität von Wahrheit thematisiert. Der Film führt vor Augen, wie kulturell geprägte Motive – durch Fokussieren, Auslassen, Interpretieren – die Wahrnehmung einer Situation und das Narrativ verschiedener Beobachter prägen.
Rahmenhandlung am Rashōmon
Die Handlung spielt im 12. Jahrhundert. Ein Priester, ein Holzfäller und zuletzt noch ein Bürger suchen am historischen, von Erdbeben und Verfall gezeichneten Südtor von Kyoto – namens Rashōmon – Schutz vor einem Wolkenbruch. Das Tor steht in Japan für einen Ort, an dem sich zwielichtige Gestalten und Verbrecher verstecken, wo Leichen und ungewollte Babys abgelegt werden. So ist es Symbol für den moralischen Zerfall in Zeiten von Naturkatastrophen und Hungersnöten, wo Menschen vor dem Nichts stehen. Einer Legende nach soll das Tor einst von einem Monster bewohnt gewesen sein, das schöne Mädchen entführt und in den Türmen des Tors missbraucht hatte.
An dem symbolträchtigen Ort kommen die drei ins Gespräch. Der Priester und der Holzfäller sind Zeugen bei Gericht gewesen und noch sehr von dem sich drei Tage zuvor zugetragenen Verbrechen mitgenommen. Der Bürger lässt sich von den beiden von der Tat und den Gerichtsaussagen erzählen. Der Zuschauer sieht die Tat mehrfach durch Rückblenden aus je verschiedenen Erzählversionen.
Kern des Geschehens
Der reiche Samurai Takehiro führt sein Pferd, auf dem seine junge Frau Maskat wie eine Göttin sitzt. Auf ihrer Durchreise begegnen sie zunächst dem Priester und dann im Wald der Dämonen dem berüchtigten Banditen und Frauenhelden Tajōmaru. Der Bandit lockt den Samurai mit der Aussicht auf ein gutes Geschäft ins Unterholz, überwältigt und fesselt ihn und vergewaltigt vor dessen Augen die junge Frau. Später findet der Holzfäller den erstochenen Samurai. Ein Polizist stellt den Banditen mit dem Pferd des Samurai.
Die Version des Banditen vor Gericht
Der als Täter angeklagte Bandit Tajōmaru bezichtigt sich angesichts seiner sicheren Hinrichtung selbst, den Samurai in die Falle gelockt, gefesselt und die Frau vergewaltigt zu haben. Nach anfänglicher Gegenwehr mit ihrem Dolch habe sie sich ihm offen hingegeben. Er rechtfertigt seine Rechtsübertretung damit, dass er als Verbrecher davon lebe, sich vom Eigentum anderer zu nehmen. Als Grund für die Vergewaltigung gibt er den körperlichen Reiz der jungen Frau sowie die Freude an der Demütigung des Samurai an, der den Akt gefesselt miterleben musste. Er habe den Mann nie töten wollen. Als er das Paar aber verlassen wollte, habe die Frau ihn angefleht, sich zu duellieren. Sie könne nur in Ehre weiterleben, wenn nur einer der Männer überlebe. Sie wolle mit dem Stärkeren gehen und zur Not auch als Räuberbraut leben, wenn die Welt nichts von der Schande der Vergewaltigung erfahre.
Der Bandit habe daraufhin den Samurai entfesselt und in einem ehrenvollen Schwertkampf auf Leben und Tod nach traditionellen Regeln besiegt. Die Frau sei jedoch während des Kampfes geflohen. Er habe sie nicht verfolgt. Seine Ehre hält Tajōmaru für unbefleckt, weil er einen harten, aber fairen Kampf mit offenem Ausgang geführt habe. Sie hätten dabei 23 Schwerthiebe ausgetauscht – in seinem ganzen Leben habe er in keinem Kampf mehr als 20 Hiebe gebraucht. Damit habe er das Recht über die Frau des Besiegten nachträglich erlangt. Seine baldige Hinrichtung akzeptiere er lediglich als Strafe für seinen Lebenswandel, nicht aber für eine etwaige moralische Verfehlung in der zur Verhandlung stehenden Tat. Den Samurai und v.a. die Frau verachtet er offensichtlich. Das Schwert des Samurai habe er verkauft, den Dolch der Frau habe er völlig vergessen.
Die Version der Frau des Samurai vor Gericht
Die vergewaltigte Frau Masako stellt unter Tränen ihre Ohnmacht und Opferrolle heraus: Um ihren Mann zu retten, habe sie sich nach dem aussichtslosen Kampf dem Banditen hingegeben, der danach verschwunden sei. Ihr Mann habe jedoch nur Verachtung für sie gehabt. Sie sei entehrt worden und ihr Schicksal sei damit besiegelt gewesen. Auf ihr Flehen um Vergebung und Bitten um erlösende Tötung, wie es die Tradition erforderte, sei ihr Mann nicht eingegangen. Sie gibt an, bewusstlos geworden zu sein und nachdem sie wieder zu sich gekommen sei, ihren Mann erstochen vorgefunden zu haben. Offensichtlich meidet die Frau jede Verantwortung und lässt eigenes aktives Tun in ihrer Rede gänzlich aus. Sie wertet beide Männer als unehrenvoll ab.
Die Version des Samurai vor Gericht
Der Samurai Takehiro wurde bei dem Vorfall getötet. Trotzdem erscheint er vor Gericht, indem er durch ein Medium [2] aus dem Jenseits spricht. Er verflucht den Banditen für seinen Lebenswandel, mehr noch aber seine Frau Masako. Diese habe sich nicht nur dem Banditen Tajōmaru hingegeben, sondern sei dann auf dessen Angebot eingegangen, sich ihm als Räuberbraut anzuschließen. Masako habe vom Banditen die Ermordung ihres gefesselten Mannes gefordert, da sie sonst ihre Ehre nicht zurückerlangen könne. Selbst der Bandit habe sich darüber entsetzt und Masako dafür verachtet. Tajōmaru habe ihn gefragt, was er mit seiner Frau tun solle. Takehiro erkennt dem Banditen an, sich an den klassischen japanischen Ehrenkodex gehalten und den in der japanischen Kultur schwerer wiegenden Verrat der Frau an ihrem Gemahl nicht toleriert zu haben.
Als Samurai habe er seine Entehrung nicht durch die Tötung seiner Frau als Ehebrecherin verheimlichen wollen, was sein Ehrenrecht gewesen wäre. Dann sei Masako geflohen. Der Bandit habe ihn entfesselt und zurückgelassen. Er selbst habe, um seine Ehre zurückzuerhalten, sein Versagen zu büßen und die Schande eines verlorenen Kampfes mit einem Gesetzlosen auszulöschen, Selbstmord mit dem Dolch seiner Frau begehen wollen. Er sei jedoch erst in dem Moment gestorben, als jemand den Dolch aus seinem Herzen gezogen habe.
Beurteilung des Geschehens
Das Gericht bleibt für den Zuschauer unsichtbar, indem die Akteure die Fragen des Richters wiederholen und frontal vor der Kamera direkt zum Zuschauer sprechen. So ist der Zuschauer selbst gefordert, sich sein Urteil zu bilden. Die drei Protagonisten schildern den Hergang der Tat vor Gericht aus ihrer jeweiligen subjektiven Sicht, v.a. bedacht darauf, das eigene Ansehen zu schützen. Dadurch widersprechend sich ihre Aussagen. Es gibt keine gemeinsam geteilte Erzählung. Jeder der drei Protagonisten ist v.a. um sich selbst besorgt und verachtet die beiden anderen für ihre Verhalten.
In der traditionellen japanischen Kultur wiegen Schande und Entehrung in der Wahrnehmung der Umwelt schwer. Ein Gesichtsverlust ist schlimmer als alles andere. Es geht weniger um Recht im Sinne der Regeln und Gesetze zu haben, als um eine weitere Verbundenheit mit der Gesellschaft. Das Gericht beschäftigt sich entsprechend wenig mit individueller Schuld und Unschuld in Bezug auf Regeln und Gesetze.
Die Version der Holzfällers
Neben einem Polizisten und dem Priester tritt der Holzfäller vor Gericht als Zeuge auf. Er möchte nichts mit dem Verbrechen zu tun haben und äußert sich nur zum Tatort. Erst am Rashōmon gibt der Holzfäller zu, die Tat selbst beobachtet zu haben. Und so erzählt er am Tor seine Version, die keinem der drei Beteiligten seine Ehre lässt und ein neues Licht auf das Geschehen wirft:
Der Bandit sei der jungen Frau nach der Tat verfallen, habe ihr Schätze und ein redliches Leben angeboten, wenn sie mit ihm käme. Masako habe jedoch ihren Mann entfesselt und einen Schwertkampf beider Männer auf Leben und Tod gefordert; sie wolle beim Sieger bleiben. Beide Männer waren nicht bereit zu dem Kampf und missbilligten Masakos Verrat an ihrem Mann. Der Bandit sei ein „ehrlicher“ Räuber und habe die Frau rauben wollen, aber dass sie den Tod ihres Mannes riskiert, finde er abscheulich. Sie sei dann von ihrem Herrn zum Selbstmord aufgefordert worden, dem sie nach dem Kodex des kaiserlichen Japans sofort folgen müsste. So aber nicht sie. In einer verzweifelten Rede habe sie ihrem Mann Feigheit vorgeworfen. Bevor er von seiner Frau den Tod fordern dürfe, müsse er selbst den Banditen besiegen. Dem Banditen habe Masako vorgehalten, nicht um sie kämpfen zu wollen. Eine Frau wolle mit dem Schwert erobert werden.
Dem Holzfäller zufolge sei dann ein wenig ehrenvoller Kampf ausgebrochen. Diesen gewann der Bandit nur mit Mühe erstach den Samurai mit dem Schwert. Als er seine Belohnung einforderte, sei Masako geflüchtet. Der Holzfäller beschuldigt alle drei unwürdiger Taten: Der Samurai sei feige und befehle seiner Frau den Selbstmord. Diese verrate ihren Mann, fordere zugleich dessen Pflichten ein und prelle den Banditen. Der Bandit habe sich die Frau mit Gewalt genommen und habe sich ebenso wenig wie der Samurai an die Regeln des fairen Kampfes gehalten.
Weiterer Verlauf der Rahmenhandlung am Rashōmon
Am Rashomon wird das Gespräch des Holzfällers, Priesters und Bürgers jäh durch Schreie unterbrochen. Die drei Männer finden ein ausgesetztes Baby. Als der Bürger das Amulett des Babys entwendet, wirft der Holzfäller ihm Raub vor. Im Gegenzug wirft dieser den Holzfäller vor, den Dolch gestohlen und als Fundstück unterschlagen zu haben. Alle Menschen seien am Ende egoistisch und hätten in ihren Narrativen das eigene Interesse im Sinn. Der Priester zeigt sich darüber zunächst erschüttert. Als ihm aber der Holzfäller den Säugling aus den Armen nehmen will und erklärt, er habe sechs Kinder zu Hause, da komme es auf ein weiteres nicht an, sieht er das Gute in der Seele. Die Reue und Annahme des Kindes wie sein eigenes kompensiert den Diebstahl. Der Priester übergibt das Baby und versichert dem Holzfäller, seinen Glauben an die Menschheit nicht aufgeben zu wollen.
Bedeutung heute
Narrative sind nicht Wahrheit und Wirklichkeit
Narrative (bewusst oder unbewusst) zu gestalten ist nur Wesen möglich, die die Welt von außen sehen und sich in andere einfühlen können, was diese beeinflusst. Nicht zuletzt ist diese Beeinflussung Sinn und Zweck aller Narrative der Welt. Besonders offenbar wird es dort, wo es um das eigene Ansehen geht. Für das Warum und Wozu werden Geschehnisse durch gedankliche Konstrukte sortiert. Narrative sind also nicht das beobachtete Geschehen und erfassen Wahrheit und Wirklichkeit nie voll. Sie sind subjektive Kommentierungen und Bewertungen davon. Gewissermaßen ist jede bewusste Wahrnehmung selektiv von unserem Narrativ geprägt. Und so ist jede Erinnerung eine subjektiv verzerrte Perspektive.[3]
Was faktisch zwischen Menschen vorgefallen ist, ist für Dritte kaum zu ergründen. Jedes Urteil bleibt ein an Indizien und Erfahrungen orientiertes Vertrauen in ein stimmiges Narrativ. Die kognitive Verzerrung oder selektive Wahrnehmung in Interaktionen wird heute auch als Rashomon-Effekt bezeichnet: Wir glauben das gerne, was dem narrativen Ich Kohärenz gibt. Wer die guten Beweggründe und Bedürfnisse der Protagonisten nach moralischem Ansehen erkennt, nähert sich ihrer inneren Wahrheit. Der Mensch ist per se ambivalent mit hellen und dunklen Seiten. Um den anderen empathisch zu fühlen, dürfen wir stets nachempfinden, wozu uns jemand eine Geschichte so erzählt, wie er es tut. Erzählen und Zuhören gewinnen an Spannung, weil die Motive nicht sofort transparent sind. [4]
Kulturelle Moralvorstellungen
Seit dem 8. Jahrhundert, als die kaiserliche Armee zum Heer der Freiwilligen umgebaut wurde, prägten die Samurai als adlige Kriegerkaste das feudale Japan. Wegen ihren Schwerter als charakteristisches Kampfgerät etablierten sie sich als Schwertadel. Die Samurai folgten einem strengen Kodex, dem Bushido. Tugenden wie Aufrichtigkeit, Ehrhaftigkeit, Reinheit, Mut und Loyalität waren Leitlinien – auch bei kriegerischem Handeln. Bestandteil der Kultur war sowohl das Recht, einen einfachen Mann mit seinem Schwert zu töten, wenn dieser sich ihm gegenüber respektlos verhielt. Als auch sich selbst im Harakiri zu töten – etwa bei persönlichem Ehrverlust und Schande.
Die traditionelle japanische Kultur war im 12. Jahrhundert stärker als heute von der eigenen Außenwirkung im gesellschaftlichen Umfeld und dessen Moral bzgl. Schande und Ehre geprägt. Die Gesellschaft als Ganzes bzw. das Kollektiv und dessen soziale Kontrolle hatten hohen Stellenwert. Wer ein moralisch verwerfliches Verbrechen begeht, kann nicht länger in seiner Umgebung bleiben.
Mit Kaiser Meiji öffnete sich Japan im 19. Jahrhundert dem Westen und ließ sich ab 1868 nach westlichem Vorbild mit strengen Reformen kulturell umgestalten. Meiji führte die Wehrpflicht wieder ein, nahm den Samurai so ihr Waffenmonopol und ihre Macht. Ihnen wurde in der Öffentlichkeit das Tragen der traditionellen Kriegsgewänder und Haarknoten verboten. Viele der einst so stolzen Krieger versanken in Armut. 1908 wurde schließlich das Strafgesetz Japans eingeführt, das bis heute grundsätzlich materiell dem deutschen Recht folgt, im Strafprozess dem amerikanischen. In Sachen Emanzipation jedoch hinkt die japanische Männerwirtschaft bis heute hinterher.
Pädagogische Leerstelle zur persönlichen Stellungnahme
Dem Zuschauer und seiner Moral ist die eigene Deutung überlassen. Am Ende bleibt die offen Frage an den Zuschauer selbst: Was rechtfertigt uns, uns moralische Urteile über faktische Wahrheiten zu bilden? Wir mögen aus Sympathie bereitwillig dem ein oder anderen Narrativ folgen – oder weil die Erklärungen Sinn und Kohärenz liefern. Und doch bedienen Narrative zur Rekonstruktion des Geschehenen v.a. die verschiedenen Egos.
Das traditionelle japanische Gericht fragt die Protagonisten und Zeugen nicht, was sie benötigen, um Frieden und Versöhnung mit der Vergangenheit zu finden. Das ist die Entwicklungschance heutiger demokratischer individualistischer Gesellschaften.