Das Buch Shaseki shu stammt aus dem 13. Jahrhundert vom japanischen Zen Meister Muju. Der hat darin in 101 kurzen Geschichten über Selbsterkenntnisse chinesischer und japanischer Zen Lehrer gesammelt. Im Zen geht es darum, sich selbst zu entdecken und sein Bewusstsein und Gewahrsein für die Quelle des Seins zu öffnen. Vom Zen Meister Shichiri Kojun enthält das Buch die Geschichte vom Dieb [1] …
Eines Abends drang ein Dieb mit einem scharfen Schwert in die Hütte des Zen Meisters Shichiri Kojun ein, als der Sutras rezitierte. „Geld her oder ich töte dich!“, drohte der Eindringling.
Shichiri Kojun erwiderte ruhig: „Störe mich nicht. Mein Geld ist dort drüben in der Schublade.“ Nach einer Weile bat er: „Nimm dir aber bitte nicht alles, ich brauche noch ein wenig, um morgen Rechnungen zu bezahlen…“ Dann fuhr er mit dem Rezitieren fort. Der Dieb war erstaunt, nahm dann den größten Teil des Geldes an sich und wandte sich zum Gehen. Als er schon an der Tür war, sagte Shichiri: „Wenn man etwas bekommen hat, soll man sich dafür bedanken.“ So dankte der Dieb dem Zen Meister und machte sich davon.
Tage später wurde der Mann bei einem anderen Einbruch verhaftet. Er gestand, auch den Zen Meister bestohlen zu haben, der daraufhin als Zeuge zur Polizeiwache gerufen wurde.
„Er hat auch euer Geld gestohlen, nicht wahr?“ fragte der Polizist.
„Nein. Mir hat der Mann nichts gestohlen. Ich überließ ihm das Geld, und er bedankte sich dafür,“ sagte Shichiri Kojun.
Als der Mann die wegen seiner Vergehen verhängte Strafe verbüßt hatte, kam er wieder zum Zen Meister Shichiri Kojun und wurde sein Schüler.
Nicht-Anhaften macht innerlich frei
Im Zen geht es wie in anderen Weisheitslehren um die reine Präsenz im Hier und Jetzt, ohne Anhaften an alten Schmerz der Vergangenheit und an unnötige Sorge um die Zukunft. Sein und Leben finden nur im gegenwärtigen Moment statt. Alles andere sind Konstrukte unseres Denkens. Im Jetzt aber braucht es weder Leid noch Sorge, nur annehmen dessen, was ist. Wer nicht anhaftet, ist innerlich frei.
Shichiri Kojun ist wahrhaft erleuchtet. Für ihn ist das ganze Leben Zen Praxis. Der Zen Meister sorgt sich nicht, weder um sein Leben noch um seinen Besitz. So tritt er dem Einbrecher nicht mit Angst, sondern mit Mitgefühl entgegen. Er geht mit dem Leben, statt in den Widerstand. Widerstand gegen das, was ist, kommt aus dem denkenden Verstand, dem Ego.[2] Die Sorge des Egos hätte den Zen Meister nur aus seiner Gegenwärtigkeit und Verbundenheit mit allem gerissen. Widerstand hätte Getrenntsein geschaffen und die Spirale der Gewalt genährt. „Geld oder Leben“ war nicht die größte Gefahr für den Zen Meister. Die größte Gefahr war, sich verführen zu lassen und unbewusst zu reagieren. Shichiri Kojun ist ihr nicht erlegen, seine Seele mit gewaltvollem Denken zu betrüben. So hat er für sich gesorgt und unabhängig und autonom gehandelt.
Transformation im Füreinander
Der Zen Meister übt Widerstand ohne Gewalt, Güte, Liebeskraft. Er willigt dem Verhalten ein und verzeiht dem Dieb ungefragt schon in der Tat. Nicht ohne aktiv auch seinen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Dort wo Geben und Nehmen eins sind, wo Übereinstimmung ist, passiert etwas Heilvolles im Menschen. Daher kann man mit einem vollkommen bewussten Menschen nicht um Positionen streiten. Und man kann ihn nicht bestehlen. Nur ein unbewusster Mensch kann ausgenutzt und manipuliert werden. Willentliche Gewaltfreiheit und Vergebung im Hier und Jetzt haben transformierende Kraft. Sie machen den Menschen frei vom Anhaften an Schmerz und Sorge und lassen die Seele auf höherer Ebene schwingen. Es gibt kein Täter-Opfer-Narrativ, kein gut und böse, keinen Teufelskreis der Gewalt.
Weltfremd oder weise
Im Alltag geht es oft weniger um die Diebe, die es auf Geld und Güter abgesehen haben, als um die Energieräuber, die über unsere Grenzen gehen. Menschen, die bedürftig sind und von ihrer Bewusstheit abgeschnitten sind, räubern Kraft und Energie von anderen. Die Geschichte zeigt, dass sie bewusste Vergebung brauchen und wie im „Lied deiner Seele“ an ihr wahrhaftiges Sein erinnert werden müssen. Wer bewusst Bitte und Danke ausspricht, steigert sein Bewusstsein über die Interdependenz allen Tuns.
Wenn man sich die Zustände in der Welt anschaut, wirkt das weltfremd. Der unbewusste Mensch schafft Leid – auch ohne es zu merken. Wie schafft man wehrhafte Kooperation mit einem unbewussten Menschen, der den fragwürdigen Spielregeln des Egos folgt, sich unbegrenzt nimmt und doch nicht lange gesättigt ist? Wie schafft man dauerhaft Demokratien auf der Welt, die wehrhaft sind und nicht den Gewalttätigen das Feld überlassen? Auf dem Weg von Krieg und Gewalt finden wir die Lösung sicher nicht. Vielleicht hilft da die Weisheit von Shichiri Kojun und seinem Schüler weiter.
[1] Vgl. Paul Reps (1999): Ohne Worte – ohne Schweigen, 101 Zen-Geschichten und andere Zen-Texte aus vier Jahrtausenden, S. 60-61.
[2] Genau genommen ist der Zen Meister nicht widerstandslos in der Passivität, sondern verstrickt sich nicht im Widerstand gegenüber Umständen, die nicht in seinem Einflussbereich liegen. So formulierte Mahathma Gandhi seine These, Widerstand ohne Gewalt sei stets der Gegengewalt, diese aber noch der Passivität vorzuziehen. Passive Widerstandslosigkeit ist Gewalt gegen die eigenen Grenzen und Bedürfnisse.