Auf Dauer nicht stimmig mit sich zu sein macht den Menschen krank. Was aber meint innere Stimmigkeit bzw. Kohärenz genau? Wie definiert sie sich dadurch, wesens- und situationsgerecht zu sein? Wie spiegeln Kommunikation und Verhalten Stimmigkeit? Wie gewinnt man Stimmigkeit?
Vier Felder der inneren Stimmigkeit (Kohärenz)
Wesens- und situationsgerecht sein
Stimmigkeit ist mehr als Authentizität. Kleine Kinder bis zum 2./ 3. Jahr – vor der Entwicklung des autonomen ICH Bewusstseins in der 1. Trotzphase, in dem sie ihren eigenen Willen entdecken – verhalten sich in jeder Situation wesensgemäß, d.h. authentisch. Direkt so wie es ihnen emotional geht. Gehen Sie z.B. mit einem Kleinkind in den Supermarkt und verweigern Sie ihm ersehnte Süßigkeiten, dann erleben Sie ihre authentische Wutkraft ganz authentisch. Situationsgerecht kann man den Wutausbruch mit Tränen, Gebrüll und sich mitten auf den Boden werfen nicht nennen. Eltern werfen sich nicht – ebenso wesensgerecht – daneben und schreien, „Ich mag das auch nicht“. Sie kontrollieren sich situationsgerechter…
Negative Emotionen sind Hinweise aus der Tiefe des Wesens, dass etwas den eigenen Bedürfnissen und Werten zuwider läuft. Die Wahrnehmung der inneren Regung ist eine Ressource. Sie zeigt die Verbundenheit mit sich selbst und weist darauf, dass im Hinblick für sie selbst etwas verkehrt läuft. Nicht stimmig ist. Ressource ist es solange sie nicht unreflektiert und impulsiv ausreagiert wird. Das wäre zwar authentisch wie beim Kleinkind, aber eben nicht der Situation angemessen. Mit unkontrolliert ausagierten Emotionen ist schnell Porzellan zerschlagen, das sich so leicht nicht mehr kitten lässt. Es ist daher nicht zu raten, emotional getriggert authentisch zu explodieren. Nach einer Nacht sieht die Sache nüchtern betrachtet doch oft wieder anders aus und dann lässt sich besser aus rationaler Distanz reagieren. Reflektiertes Verhalten ist meist fruchtbarer.
Sprich, wenn du wütend bist, und du wirst die beste Rede halten, die du je bereust.
Laurence J. Peter (1919-1990), Schöpfer des Peter Prinzip [1]
Reiz-Reaktions-Schema
Darin, zwischen Reiz und Reaktion, einen Raum der Reflexion zu erzeugen, liegen Freiheit und Wille des reifen Menschen. Die Freiheit über sein Verhalten selbst bewusst zu entscheiden und darin seine persönliche Macht zu finden…
Menschen lernen in der Gesellschaft, sich situativ anzupassen. Nur verlernen sie dabei nicht selten den wesensgemäßen Zugang zu den eigenen Emotionen und sich selbst. V.a. in neuen Rollen, in denen es noch an Orientierung fehlt, wird zuerst der situationsgerechte Zugang gesucht – oft über situativ passenden Rezepte und Anleitungen. Es folgen mehr oder weniger vergebliche Versuche, durch die Fülle der Ratgeber hindurch Klarheit zu finden und Wissen aufzubauen. Am Ende des Strebens nach situationsgerechtem Rezepten im Außen mag es einem wie Goethes Faust zumute sein, der in Faust I nach aller Studiererei einen schmerzlichen Mangel an Authentizität ausdrückt.
Wesens- und Situationsgerecht heißt bei Schulz von Thun stimmig bzw. kohärent sein
Der autonome innere Halt lässt erfahren, dass reine Außenleitung durch Wissen und Verstand des Egos keine stimmige bzw. kohärente Führung ausmachen. Stimmigkeit bedarf beides: situationsgerecht passend und wesensgemäß authentisch zu sein.[2] So entstehen Reife und professionelle Wirkung. Das Lernfeld der Lebenserfahrung besteht darin, in Situation angemessenem Verhalten authentisch zu sein.
4 Felder | situationsgerecht (außen) |
nicht situationsgerecht (außen) |
mir wesensgerecht (innen) |
stimmig | unstimmig (daneben) |
nicht wesensgerecht (innen) |
unstimmig (angepasst) | unstimmig (sonderlich) |
Was könnte dann ein stimmiger – authentischer und situationsgerechter – Umgang des Erwachsenen mit dem kleinen Kind im Supermarkt sein, das sich voll Energie für seine Bedürfnisse einsetzt? Ein Umdeuten der Stresssituation hilft, um selbst entspannt zu bleiben. Oft stören Eltern sich mehr am Schreien der eigenen Kinder als Außenstehende es tun. Es gilt, den eigenen Stress abzuschütteln und das Gute am authentischen Ausdruck des Kindes zu erfassen. Die Emotionen wechseln bei Kleinkinder von Moment zu Moment. Die Bedürfnisse wahrzunehmen, das Kleinkind zu trösten und dann den Fokus zu verlagern, ist eine wichtige pädagogische Fähigkeit, das Kind in seinen ersten Selbst-Erfahrungen zu begleiten. So wird sein Selbst-Bewusstsein gestärkt.
Wie Eltern mit der Wut des Kleinkindes umgehen, beeinflusst, ob und wie die Menschen später Wutgefühle – zum Schutz ihrer inneren Grenzen – bewusst fühlen. Gefühlswahrnehmungen werden oft schon in jungen Jahren gehemmt. Kinder werden konditioniert, brav zu sein und sich an Regeln zu halten. Sie erlernen so, die eigenen Gefühle zu unterdrücken, nicht mehr wahrzunehmen und auszudrücken. Aus Angst vor Bindungsverlust, Konflikten, Liebesentzug verlieren sie Authentizität.
Illusionen der Stimmigkeit
Stimmigkeit (Kohärenz) ist kein statischer Zustand, sondern ist in jedem Moment neu zu erringen. Unstimmigkeit ist für das Hirn Stress. Es ist immer bestrebt, Energie zu sparen. Daher schafft es mitunter auch die Illusion der Stimmigkeit durch
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Selektive Wahrnehmungsfilter bzw. Aufmerksamkeitsblinzeln
Fokus wird auf das gerichtet, was sich ins eigene Weltbild einfügt – ich kann nur “wahr” nehmen, was ich denken kann. Nach Humberto Maturana sind nur 15% unserer Sehnerven überhaupt mit der Außenwelt verbunden. So ist logisch, dass die Bilder, die wir sehen, in unserem Kopf erzeugt werden. Unser Hirn nimmt ca. 11 Mio. Bits pro Sekunde auf. Aber nur 20-40 Bits (0,0002%) kann es bewusst verarbeiten. Zugleich können wir bewusst nur einen Gedanken zu einer Zeit denken. Unter Stress und Angst engt sich die Wahrnehmung weiter ein. Seitenreize werden immer mehr ausgeblendet. Im entspannten und achtsamen Zustand, lassen wir die Welt weiter in uns hinein, nehmen viele Dinge gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen wahr und kommen so in einen kreativen, zutiefst stimmigen Modus.
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Kommt es trotzdem zu kognitiven Dissonanzen
weil sich eine neue Kognition nicht in das bestehende Bild einfügt, so erzeugt das Spannung. Der Kopf ist unbewusst bestrebt, die Unstimmigkeit schnell wieder aufzulösen. Dies gelingt etwa durch aktive Umdeutung von abweichenden Wahrnehmungen oder passiv dadurch, dass Nichtanschlussfähiges in der Regel nach 30 Sekunden wieder “vergessen” wird. Änderungen von Verhalten oder Haltung sind energieaufwändig und werden nur dann dringlich, wenn sich die kognitiven Dissonanzen nicht unterdrücken lassen. Verdrängung von Unstimmigkeit funktioniert jedoch nicht. Wenn Wahrnehmungen aus dem Bewusstsein ins Unterbewusste verdrängt werden, setzen sie sich dort als Schatten fest und finden ihren körperlichen Ausdruck. So wird dem achtsamen Gegenüber die Unstimmigkeit oft leichter bewusst als dem Betroffenen selbst.
Innere Haltung und stimmige Kommunikation
Kommunikation geht weit über Worte, Rhetorik, Argumentation hinaus. Menschen kommunizieren nonverbal mit Körpersprache, Stimmlage, Tonalität, Mimik, Gestik. V.a. senden sie unbewusst ständig Signale, die die innere Haltung transportieren. Diese geben den Ausschlag dafür, wie das Gesagte ankommt. Nonverbale Faktoren wie die Körperhaltung hängen von dem ab, was den Menschen im Inneren ausmacht und bewegt. Äußere und innere Haltung beeinflussen sich gegenseitig. Wirkung ist daher erst dann wirklich zu verbessern, wenn die Kommunikation „stimmt” und mit der inneren Überzeugung übereinstimmt. Dissonanzen erfühlt das Gegenüber intuitiv. Stimmigkeit in der Kommunikation ist nötig und hängt davon ab, ob wir das, was wir sagen auch fühlen. Ob es authentisch ist. Sonst setzen wir Masken auf, pflegen Fassaden und gehen zu uns selbst in Distanz.
Unstimmigkeit spürt der Andere. Und dann bildet er sein Urteil zu über 90% gerade nicht anhand des sachlichen Inhalts, sondern v.a. durch Entschlüsseln nonverbaler Signale.[3] Der Andere sucht die verdeckte Botschaft hinter den Worten – was ich wohl über mich verschweige. Verbale und nonverbale Botschaft sollen darum stimmig und kongruent mit der inneren Haltung, den Gefühlen, Bedürfnissen, dem Denken sein. Achtsamkeit und Sebstreflexion der inneren Haltung und des nonverbalen Ausdrucks sind daher wesentlich, um nicht der Illusion der eigenen Stimmigkeit zu unterliegen. Ein gutes Selbstwertgefühl macht Persönlichkeit aus. D.h. sich selbst mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen zu spüren und mit sich im Reinen zu sein. Wer stimmig und mit sich selbst emphatisch verbunden ist, der steigert in gleichem Maße seine Fähigkeit zur Empathie gegenüber anderen.
Interaktion von Innen und Außen
Wer sich situations- und wesensgerecht verhält und kommuniziert, wirkt vertrauenswürdig. Geht er zudem empathisch auf den Zuhörer ein, entstehen Resonanz und Verbindung. Das ist der Nährboden guter Kommunikation. Innere und äußere Haltung beeinflussen sich immer gegenseitig – bewusst und unbewusst.
Wenn Sie etwa für ein paar Sekunden die Mundwinkel hochziehen und beobachten, wie sich Ihre Stimmung erhellt, merken Sie sofort wie auch der Körper auf die innere Haltung wirkt… Wenn uns starke emotionale Regungen überkommen, lässt sich durch Fokus auf äußere Haltung vermeiden, impulsiven Kräften Ausdruck zu verleihen. Vor die Tür treten, tief durchatmen, Körperteile in kaltes Wasser tauchen, Herz- bzw. Pulsschlag fühlen etc. Spüren wir den Körper, holt uns das ins Bewusstsein für die Situation im Hier und Jetzt zurück.
Quellen:
[1] In der Literatur ist das Phänomen, dass die Beförderung von Mitarbeitern in die nächste Leitungsebene häufig mehr mit der Fachlichkeit der aktuellen Position als mit den Anforderungen der neuen Position zu tun hat, nach dem Urheber als „Peter-Prinzip“ bekannt. Vgl. Laurence J. Peter; Raymond Hull (1972) Das Peter-Prinzip oder die Hierarchie der Unfähigen, Kapitel 1. Vgl. Spitzer R. B. (2004): Gegen den Strom schwimmen: Die Herausforderungen des Gesundheitswesens. In: Drucker, Peter F., Paschek P. (Hrsg). Kardinaltugenden effektiver Führung. S. 133–146.
[2] Vgl. Schulz von Thun, Friedemann (1998): Miteinander reden, 3. Das Innere Team und situationsgerechte Kommunikation, Reinbek/ Hamburg.
[3] So z.B. Albert Mehrabian, der mit seinen Experimenten zur Bedeutung der nonverbalen Elemente menschlicher Kommunikation berühmt wurde. Sind Inhalt, stimmlicher oder mimischer Ausdruck miteinander inkongruent, so zieht der Zuhörer seine Information nur zu 7 % (!) aus dem sprachlichen Inhalt, zu 38 % aus dem stimmlichen Ausdruck und zu 55 % aus der Körpersprache. Daraus wurde die 7-38-55-Regel abgeleitet.
Spannendes zur nonverbalen Kommunikation von einem Zauberkünstler: Thorsten Havener: Ohne Worte – was andere über Dich denken