Negative Gefühle, Emotionen, Empfindungen [1] sind unangenehm und schwierig auszuhalten. Eigentlich ja gar nicht negativ… Es sei denn, sie stecken im Körper fest und müssen sich erst wieder lösen. Wie lassen sie sich aushalten lernen? Was zeigen sie uns? Wie lassen sie sich verstehen? Wie lassen sie sich auflösen? Und: Sind negative Gefühle überhaupt real? Ist ihnen zu trauen?
Emotionale Vorgänge
Eine intellektuelle Reflexion emotionaler Vorgänge erhöht das Bewusstsein. Am Anfang steht die Erkenntnis, dass negative Gefühle durch unsere Art zu denken ausgelöst werden. So kommen wir auch gleich zur Frage: Wenn sie ihren berechtigten Sinn haben – wofür sind die unangenehmen Gefühle gut? Gefühle sind Reaktionen, die sind wie sie sind und originär immer unserer Sicherheit dienen. Damit können wir Gefühle eigentlich gar nicht als negativ etikettieren, sondern eher – da sie sich schwer aushalten lassen – als unangenehm. Die antiken Denker sprachen von Schmerz im Gegensatz zur Lust. Ein schmerzvolles Gefühl baut eine innere Spannung auf, die wir loswerden wollen. Deshalb lassen wir uns von ihm zur Handlung leiten. Es soll uns aus einem Zustand heraus führen. Emotionen sind die Treiber unserer Entwicklung. Alle Übergangszustände sind durch Emotionen gekennzeichnet.
Positive und negative Emotionen: Lust und Schmerz
Emotionen spielen sich präsent im Körper ab. Sie sind ein Motor des menschlichen Tuns. Um den Organismus blitzschnell zu aktivieren, erhöhen sie die Blutzufuhr in den Beinen für die Flucht, schicken chemische Moleküle in die Blutbahn und neuronale bzw. elektrochemische Impulse über die Nervenbahnen in die Muskeln und Organe. Im Hirnstamm (z.B. Hypothalamus, Amygdala) aktivieren sie neuronale Programme von Reiz und Reaktion. So wird aus Stress Emotion – zeitlich kurze, intensive energetische Erregungen bzw. Muster des Energieverbrauchs.[0] Stimulierend und mobilisierend, manchmal aber hemmend für das Denken, Fühlen und Verhalten (wie z.B. bei Schreck, in der Trauer oder Depression). Sie werden durch äußere Reize ausgelöst und streben sodann nach körperlichem Ausdruck, ohne dass uns dies bewusst sein muss. Emotionen sind dem Organismus nützlich.
90 Sekunden Regel
Emotionen sind kaum zu kontrollieren und willkürlich nachzuahmen. Einige emotionale Reaktionen sind gut zu bemerken. Wie z.B. Gesichtsausdruck und -farbe, feuchte oder kalte Hände. Freude, Überraschung, Stolz und Trauer, Furcht, Ärger, Scham stehen einem buchstäblich ins Gesicht geschrieben.[2] Andere Reaktionen bleiben dem Betrachter verborgen wie z.B. die Ausschüttung von Cortisol oder Neurotransmittern (wie Noradrenalin, Serotonin, Dopamin). Der Mensch erlebt die Emotion körperlich: Wir kriegen Gänsehaut, finden es zum Kotzen, etwas liegt uns im Magen. Jede emotionale Energie braucht nur einen kurzen Augenblick, maximal 90 Sekunden, um in den Körper zu gelangen, über den Blutkreislauf durch ihn hindurch und auszufließen. Wer länger als 90 Sekunden z.B. wütend bleibt, hängt Gedanken an, die ihn in der Wut halten. Die Wut steckt dann im Körper fest.
Die Sprache des Körpers ist eine Ressource im Zugang zur Wirklichkeit. Der Körper nimmt alles wahr und behält sich vieles unbewusst. Sich dagegen zu wehren, kostet Kraft und schafft Verstrickung. Joan Rosenberg empfiehlt im TED Talk über die Kraft und Weisheit unangenehmer Gefühle die “biochemische Welle” 90 Sekunden bewusst auszuhalten. Das führt nicht dazu, sich in Emotionen zu verlieren. Im Gegenteil: Werden sie angenommen, flauen sie schnell wieder ab. Ob angenehm oder unangenehm – Emotionen bewusst zu durchleben, macht lebendig und präsent. Sich der Gegenwart wesensgerecht zuzuwenden, löst die Emotionen auf: Wenn ein Kleinkind weinen muss, weint es. Es ist ihm nicht peinlich. Es schreit, schluchzt, ist laut, wenn ihm danach ist – und es beruhigt sich schnell. Kinder hören sofort auf zu weinen, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit auf neue Abenteuer lenkt.
Positive und negative Gefühle: Wahrgenommene Emotionen
Auf die Frage „Wie geht es Dir?“ kommt oft ein „gut“ oder „nicht so gut“. Selten werden Gefühle ausgedrückt. Dabei haben Gefühle wichtige Botschaften für uns. Gefühle sind mentale Erfahrungen von Emotionen. Sie folgen der Emotion und etikettiere sie über den Verstand im Bewusstsein. Wir erkennen erst, dass wir ein Gefühl haben, wenn wir ein Bewusstsein haben, die Emotion in unserem Körper zu spüren. Wenn wir also Veränderungen in Körper und Gehirn bewusst fühlen – wie Herz (Blutdruck, Puls), Kreislauf, Atmung, Weite der Pupillen, Schweiß.[3] Gefühle machen Lebensenergien bewusst. Damasio beschreibt Gefühle als ein mentales Abbild unserer Wahrnehmung der Realität. Wie alle Kognitionen beruhen auch Gefühle auf Unterscheidungen. Sie helfen uns, Entscheidungen (mit Hilfe des Körpers) zu treffen.
Es kann schmerzhaft sein, sich den Gefühlen zu stellen und die Verantwortung für sie an sich zu nehmen. Ein anderer kann schmerzliche oder angenehme Gefühle in uns auslösen, aber er kann sie nie verursachen. Sobald wir Gefühle in uns hochkommen lassen, sie beschauen, durchleben, ohne ihnen anzuhaften, haben wir Zugang zu einer enormen Kraft: Es ist unser Denken darüber, das Wut, Schmerz, Ärger oder Freude etc. verursacht. Und so gilt es, Gefühle auszuhalten. Nach innen zu gehen, den Reiz wahrzunehmen. Erst der Prozess des Fühlens macht bewusst auf das Problem aufmerksam, mit dessen Lösung die Emotionen bereits begonnen haben. Das Wahrnehmen der Gefühle schafft einen Raum zwischen Reiz und Reaktion für die Vernunft. Wir können situationsgerecht reagieren – ohne über die Gefühle zu grübeln und ihnen anzuhaften.
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Positive und negative Empfindungen
Damasio unterscheidet neben Emotionen und Gefühlen zudem Empfindungen (von flüchtigen situativer sinnlicher Intuition bis zu anhaltenden Stimmungen). Wie etwa Ruhe, Aufregung, Lethargie, Harmonie, Dissonanz, Unbehagen u.a. Auf die eigene Stimmung wirken Verstimmungen als auch verschleppte Emotionen zurück. Sie zeigt sich in kleinsten Details der Körperhaltung, Geschwindigkeit oder Muster der Bewegung, minimale Variation in der Häufigkeit und dem Tempo von Augenbewegungen, Kontraktionen der Muskeln im Gesicht, Tonfall, Sprachrhythmus und Modulation zeigen den energetischen Zustand des Organismus.[4] Emotionen setzen – abhängig von Situation und Stimmung – Schalter und Filter im Denken, Fühlen und Verhalten. Sie lassen uns die Welt z.B. in einer Logik von Angst, Wut, Hass, Freude, Liebe, Trauer etc. sehen. Daran können wir durch (Re-) Fokussierung arbeiten.
Erfahrungen werden stets geistig durch Gedanken (psychisch/ mental) und körperlich durch Emotionen (physisch/ somatisch) verknüpft. Doch während kognitive Erinnerungen im Laufe der Zeit verblassen und sich wandeln, transportieren sich Körpererinnerungen unbewusst durch Emotionen weiter. Ein aktueller Reiz löst eine Emotion aus der Vergangenheit aus, überträgt diese auf das Jetzt und aktiviert unbewusste Muster. So interagieren Gegenwart und Vergangenheit fortlaufend, auch transgenerativ. Wer sich durch verdrängte Emotionen nicht bewusst dieser Vergangenheit erinnert, reproduziert sie auf diese Weise weiter. Es gibt jedoch die Chance sie anzunehmen, zu besehen und in anderer Haltung neu zu bewerten.
Emotion, Gefühl, Empfindung werden hier bewusst differenziert:[1]
Emotion | Gefühl | Empfindung | |
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Auslöser |
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Intensität & Dauer |
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Bewusstseinsnähe |
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Körper- Wahrnehmung |
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Körperlicher Ausdruck |
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Negative Gefühle und ihren Sinn verstehen
Die Bedeutung der Reflexion für die eigene Entwicklung zeigt sich nie so deutlich wie in der Konfrontation mit negativen Gefühlen: Nicht davonlaufen, nicht verdrängen, nicht gegen sie ankämpfen und uns auch nicht mit ihnen identifizieren. All das bindet und verstrickt uns nur mit dem Gefühl. Sondern mit ihm und dem Schmerz gehen und es als das betrachten, was es ist. Dann kann das unangenehme Gefühl zu einem weisen Hinweiser und Rauchmelder im Leben werden, mit denen sich die Bedürfnisse melden. Wenn das Gefühl gesehen und anerkannt wird, also seinen Zweck erfüllt, dann kann es sich auch – wie bei einem getrösteten Kind – gleich wieder auflösen. Mit zunehmendem Bewusstsein wird offenbar, wie stark negative Gefühle mit dem eigenen urteilenden Denken verknüpft sind.
Krafträuber sind weniger die schmerzenden Emotionen selbst als unser Denken dazu, durch das wir den Gefühlen anhaften. Nicht jeder hat ein Gegenüber, das in die Empathie zu den Gefühlen geht. Aber jeder kann sich darin üben, sein Herz offen zu halten und sich in Selbstempathie zu begegnen. Solange wir in der Haltung der Liebe und Verbindung bleiben, sind wir in unserer ganzen Kraft. Dann erfüllen Gefühle den Zweck, Veränderung von innen anzustoßen und Dinge aus einer anderen Distanz wahrzunehmen. Wenn wir aber in die mentale Kraft des Egos gehen, dessen Anliegen es ist, ohne Wenn und Aber den eigenen Selbstwert zu schützen, dann sind wir in einer niedrigen Energie des Kampfs und der Verteidigung. Obwohl die emotionale Welle in 90 Sekunden vorbei ist, bleiben wir im Gefühl der narzistischen Verletzung feststecken.
Paradoxie
Positiv oder negativ: Unsere Gefühle machen uns zu lebendigen Subjekten.
Über die emotionale Beteiligung bekommen wir Zugang zu unseren Gefühlen. Solange wir im Kopf sind, denken und phantasieren, fühlen wir nicht, was in uns passiert. Eine Flucht in die Gedanken [3] kann ein unbewusster Selbstschutz vor der Macht der Emotionen sein. Das geht soweit dass einige Menschen sich als völlig rational beschreiben und bestreiten, tiefe Gefühle zu erleben. Sie haben aus Selbstschutz den Kontakt zu sich und ihrem Körper verloren. Gefühle, die aber im Unbewussten verborgen bleiben, können sich nicht auflösen. Der Mensch wird zu ihrem Spielball.
Wenn ein schmerzhaftes Gefühl aufkommt, spannt man sich an, so dass man es weniger fühlt. Negativen Gefühlen können wir uns daher nur in entspanntem Zustand stellen. Erkennt man nicht, warum man etwas (nicht) fühlt, ist man sich eines Teils seiner selbst nicht bewusst. Trotzdem ist er da und beeinflusst. Die Intuition speist sich aus vorborgenem Wissen und emotional abgespeicherter Erfahrung. Ob wir sie verstehen oder nicht, sie erscheint als Eingebung zur rechten Zeit und am rechten Ort scheinbar aus dem Nichts. Wir lassen uns dann davon fremdsteuern. Um zu fühlen, müssen wir in unseren Körper gehen. Dazu hilft z.B. Bewegung und den Kopf frei machen und zu lauschen, welche Erinnerungen aufkommen…
Schauen wir uns einige markante Vertreter von der Liste unangenehmer Gefühle an:
1. Furcht und Angst (bis zur Panik)
Angst bezieht sich dagegen auf die Unverfügbarkeit der Zukunft an sich und ist damit ein rein mentales Konstrukt. Es macht Angst, dass uns Situationen oder Entwicklungen nicht vertraut und angenehm sind und wir uns ihnen nicht gewachsen fühlen. So ist jede Entwicklung mit Angst verbunden bis hin zum Urbild der Angst: die Angst vor dem Tod.[5] Das Leben ist unverfügbar. Angst begleitet jeden Weg der Veränderung. Es geht nicht ohne die Angst, nur mit ihr. Alle unangenehmen Gefühle gründen so letztlich in einer diffusen Angst. Angst verdeutlicht, “das ist nicht sicher und kalkulierbar” oder “hier ist Gefahr” und mahnt zur Vorsicht und dem Heraustreten aus und Vermeiden der Situation. So ist sie ein wichtiger Ratgeber (“von weg”) – aber kein weiser Anführer wie Gefühle in der stärkenden Energie der Liebe – wie etwa der Mut zur begründeten Hoffnung (“hin zu”).
Mut, Willen und Coping Gefühl
Mut relativiert die Angst. Furcht und Angst (bis hin zu Panik) setzen uns unter Spannung. In Furcht und Angst fehlen Gelassenheit, Sicherheit, Vertrauen, Selbstvertrauen. Da braucht es dann Mut und die Kraft des Willens, trotzdem zu handeln. Soeren Kierkegaard hat die Metapher des “Sprungs in den Glauben” verwendet, die zeigt, dass das Neue durch einen Sprung ins Unbekannte eintritt – ohne festen Boden unter den Füßen zu haben und ohne zu wissen, was uns nach der Landung erwartet.[6] Entwicklung geschieht bewusst oder unbewusst nur durch Entwicklungssprünge. Der freie Mensch hat die Wahl, statt der Angst zu folgen und z.B. die Flucht zu ergreifen oder in Schockstarre zu verfallen, sich in seiner Angst zu begegnen, sich ihr zu stellen und durch sie hindurchzugehen, um neue Erfahrungen zu machen.
Nehmen wir z.B. den Besuch beim Zahnarzt. Wer zum Zahnarzt geht und befürchtet auf dem Zahnarztstuhl die Kontrolle zu verlieren – den schmerzt es schon bevor es überhaupt wehtut. Die Angst vor dem Schmerz ist ein großer Anteil vom Schmerz – weshalb das Annehmen von Schmerz ihn zugleich erleichtert. Auch medizinische Fakten helfen da wenig. Es heißt, dass Zahnärzte auf dem Behandlungsstuhl die schwierigsten aller Patienten sind. Mit dem Gang zum Zahnarzt muss die Schwellenangst überwunden werden. Dazu braucht es Mut. Ist die Prozedur dann aber überstanden, bleibt ein gutes (Coping-) Gefühl: Aus dem befürchteten Kontrollverlust außerhalb der Komfortzone wird ein Gefühl von Stolz und Glück. Neurobiologisch wird dabei das Adrenalin, das uns in den Stressmodus versetzt, durch die körpereigene Glückdroge Dopamin ersetzt und die Synapsen öffnen sich wieder.
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Angst ist ein normales Alltagsphänomen und ein wichtiger Protagonist des “Inneren Team“. Doch kann sie auch krankhafte Züge entwickeln. In der Psychotherapie machen Angst- und Panikstörungen einen großen Teil der Patienten aus. Gerade traumatisierte Menschen leiden unter immensen Ängsten. Sie flüchten geradezu aus ihrem Körper: versteifen in ihren Bewegungen und in ihrer Körperhaltung, können Gefühle kaum ausdrücken, können Emotionen schlecht regulieren und erinnern sich schlecht. In der Therapie zeigen Ansätze an der emotionalen Ebene gute Wirkung, um an das Unbewältigte im Unbewussten zu kommen. Die Angsttherapie setzt dann meist an der verletzten Selbstbeziehung an. Bei auch bei traumatologischen Verletzungen und Erkrankungen in der Somatik spielt die Angst eine zentrale Rolle.
Mediziner, die dem Patienten durch Fakten Kompetenz, Sicherheit und Vertrauen vermitteln wollen, um ihm die Angst zu nehmen, erreichen oft ihr Ziel nicht. Indem sie sich auf eine funktionale Ebene zurückziehen und sich nicht erst Zeit und Raum nehmen, eine menschliche Verbindung herstellen und sich empathisch mit den Ängsten des Patienten auseinander setzen, ermutigen sie wenig zum Vertrauenssprung. Wie er sich gesehen fühlte, vergisst der Patient nicht – gerade in seiner existenziellen Grenzsituation.
Das kleine Kind in dir pflegen
Sehr kleine Kinder drücken Ihre Emotion unbewusst ganz natürlich aus. Wer sein Mitgefühl übergeht und sein Baby – wie in früheren Erziehungsratgebern – nachts durchschreien lässt, wird nach ein paar Nächten erreicht haben, dass es nicht mehr schreit. Das Kleine hat seine Überlebensangst, seine Schmerzen, seinen Hunger abgespalten und gelernt, sich von seinen Gefühlen und Bedürfnissen zu trennen. Wenn wir aber eine Gesellschaft von bindungs-, liebes und friedensfähigen Menschen stärken wollen, dann nehmen wir unser Baby tröstend in den Arm, bis es still und friedlich ist wie wir selbst. So lernen wir die Kunst der Beziehung in der Regulation von Nähe und Distanz. Wir erkennen – wie Gerald Hüther es ausdrücken würde – einander als Subjekte mit eigenen Bedürfnissen und verleihen uns so menschliche Würde statt uns nur wie Objekte zu behandeln.
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2. Hass, Frustration, Ärger, Zorn, Wut und Depression
Hass, Ärger, Zorn und Wut sind wie Feuer. Ob sie konstruktiv oder destruktiv wirken, liegt nicht in ihrem Wesen, sondern wie sie gelenkt werden. Sie überkommt uns als Abwehrreaktion, wenn die eigenen Grenzen deutlich überschritten wurden und sorgt aggressiv für Distanz und klare Grenzen. Die Kraft zeigt, dass da etwas verteidigt werden will. Das für uns etwas nicht stimmt. Sie treibt uns mit aller Wucht dazu an, für uns oder für die Sache einzustehen und bringt uns unmittelbar ins Handeln. Hier geht es schließlich um nicht weniger als um den Schutz des Selbstwertes und der Werte.
Nicht die Wut als Kraft an sich ist problematisch. Wird sie aber nicht liebevoll angenommen und entschlüsselt, sondern verdrängt, unterdrückt und ins Unbewusste abgespalten, dann wirkt sie dort weiter. Es wird nun Energie darauf verwendet, sie dauernd auszublenden. Das kostet und blockiert Kraft. Dann richtig sich die Wucht nach innen, so dass Symptome auf körperlicher Ebene entstehen können. Auch kann sich die Grundstimmung ändern. Sekundär können öfters Gefühle von Stress, Überforderung, Unruhe und Unzufriedenheit etc. auftauchen, bzw. auf kognitiver Ebene Konzentrationsstörungen, Erinnerungslücken, Selbstzweifel und Selbstkritik. Dann sind irgendwann die Schritte zurück nötig, um auf dem Boden der Gegenwart alte Themen aufzulösen. Weil sie sonst immer weiter wirken bis es zur Explosion kommt, dem katharsischen Ausdruck unbewusst angestauter, unterdrückter Emotionen.
Von Vermischung und Vergiftung
Der Wutausbruch richtet sich gegen das nun zur Verfügung stehende Gegenüber, das gerade unsere empfindlichen Knöpfe gedrückt hat und so alle angestaute Energie abbekommt. Die Attacke wirkt sich schnell destruktiv und verletzend aus. Der Spannungsabbau entlastet dann zwar temporär. Problem ist: Wird nur der Auslöser und nicht die primären Ursachen gesehen, entsteht keine Lösungsenergie und der konstruktive Impuls der Veränderung bleibt aus. Facht man Ärger weiter durch zornige Gedanken und Taten an, so nistet er sich im Hirn ein („Wut frisst Hirn”) und vergiftet uns. Wer vom Zorn befallen wird, soll ihn nicht umsonst nach einer indianischen Weisheit so rasch wie möglich wieder abzuschütteln – spätestens aber vor dem Einbruch der Nacht. Wird Ärger geheilt, kann daraus etwas Gutes erwachsen.
Alte Gefühle auflösen und loslassen
Gerade Hass zeigt an, dass noch alte Verletzungen präsent sind. Das Ausblenden aus dem Bewusstsein – als wären die Verletzungen nie geschehen, hilft nicht. Die primären Ursachen von Hass, Wut und Co. müssen anerkannt werden. Kann man es aber schaffen, akuten Ärger, Zorn und Wut konstruktiv einzusetzen? Die starken Reiz-Reaktions-Muster zu unterbrechen und vor der Reaktion einen Moment der Reflexion zu schaffen? Da viele Menschen gelernt haben, dass es ungehörig ist, Aggressionen zu zeigen, haben sie verlernt, Ärger und Enttäuschung angemessen auszudrücken. Herunter geschluckter Ärger richtet sich auf Dauer jedoch gegen sich selbst und den eigenen Selbstwert, für den man nicht eintritt.[8]
Um Ärger loszulassen hilft nur eins: die körperliche Anspannung (zusammengekniffene Lippen, Muskelverspannungen, erhöhten Blutdruck, Entzündungen, Haut- oder Verdauungsprobleme etc.) wahrzunehmen und bewusst zu entspannen. Sich der eigenen Bedürfnisse klar zu werden und sie auszudrücken. Schleichend spannen sich sonst Stimmung und Tonfall an. Ärger wird geschluckt, bis man sich nicht mehr beherrschen kann. Dann kommt nur noch eine Kleinigkeit dazu und man bricht wie ein Vulkan aus. Das mag uns kurzfristig entlasten, hinterlässt aber Spuren und wir bereuen, was wir gesagt oder getan haben. Machen wir uns also besser zur Gewohnheit, bis 10 (besser bis 90!) zu zählen – dann schaffen wir Abstand, sind dem Ärger weniger ausgeliefert und haben die Explosionsgefahr stark reduziert. Mit Abstand bekommen wir wieder Macht über unsere Reaktion und widmen uns dem Thema reflektierter.
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3. Traurigkeit, Trauer und Schmerz
Wer blockiert in der Trauer festhängt, hat seinen Fokus in der Vergangenheit, beweint und bedauert statisch den vergangenen Schmerz und Verlust. Das steigert die Trauer und führt zu einer deprimierten Stimmung. Depression verhindert, dass wir uns unserer Bedürfnisse bewusst werden und Schritte dahin ergreifen können. Wir hängen in den Gedanken fest. Gegenüber der Apathie ist die Trauer energetisch höher, da dem Trauernden Gefühle noch zugänglich sind. Wenn ein Verstockter zu weinen beginnt, wurde ein Schritt aus der Trostlosigkeit erzielt – ein erster Schritt, den Schmerz anzunehmen und zu integrieren. Wer traurig ist und weinen muss, soll das so natürlich wie ein kleines Kind tun. Dem ist nicht peinlich, Gefühle zu zeigen, zu schreien, schluchzen, laut zu sein, wenn ihm danach ist. Bis etwas die Aufmerksamkeit wieder umlenkt.
Trauer als Begleitprozess des Loslassen
Traurigkeit bis hin zu starker Frustration hilft beim Ablösungen: Im Modus der Trauer können Menschen sich ein Nest bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist hat eine dünne Haut. Manches Leid bricht wie eine schlecht verheilte Wunde wieder auf. Nur wer die Trauer zulässt und die Tränen ausweint, kann die Trauer ausspülen und seine Wunden heilen. Doch oft legen sich die Menschen lieber einen Panzer zu, bekommen Magenkrämpfe, Atemnot, Kopf- und Herzschmerzen, Schulter- und Rückenprobleme oder entwickeln Süchte, nur um die Traurigkeit nicht zu fühlen.
Adressieren wir den Schmerz mit Schuldzuweisungen, bleiben wir ein Teil des Unfriedens. Um Feindbilder zu verwandeln braucht es nach Marshall Rosenberg „Verzweiflungsarbeit“ mit dem Schmerz und den eigenen unerfüllten Bedürfnissen. Es gibt keinen Schmerz, der letztlich gegen die höhere Kraft der Liebe bestehen könnte. In Liebe geborgen können wir unsere Bedürfnisse klären und an unserem Schmerz auch wachsen und einfühlend auch in die Menschen sein, die unsere Bedürfnisse nicht erfüllen. Das ist die Basis gesunder Veränderung.
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4. Sozial erlernte Emotionen wie Schuld, Scham, Neid, Eifersucht, Geiz und Gier
Im Gegensatz zu den Basis-Emotionen wie Angst, Ärger, Trauer und Freude sind sozial erlernte Emotionen nicht in uns angelegt. Sie entwickeln sich beim gesunden Menschen in Beziehungen mit seiner Moral. Dann lernt er ein schlechtes Gewissen, Schuld, Scham, Verlegenheit zu empfinden. Dazu braucht es die menschliche Reife, über sich selbst und andere zu reflektieren. Das hat regulierende soziale Funktion: Natürliche Scham und die Sorge vor Gesichtsverlust setzen dem Denken und Handeln Tabus, bewahren den Mensch vor unethischem Verhalten und vor grenzenloser Entfesselung. Ein Mensch, der präsent im Hier und Jetzt ist, spürt Schuld und Scham nicht. Schuld und Scham sind stets sekundäre Denk- und Reflexionsprozesse, die nach innen oder auf andere gerichtete Verurteilungen beinhalten.
Scham zeigt, dass wir von außen auf uns blicken können und uns dabei auf das Äußere fixieren (was die anderen denken könnten). Wir erkennen auf moralischer Ebene, dass wir Fehler machen und leiten daraus ab, dies zu vermeiden. Das fördert soziales Verhalten und vermeidet eigene Bloßstellung.
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Traditionelle Dominanzsysteme nutzen die Moralfähigkeit des Menschen und arbeiten bewusst mit Belohnung, Bestrafung, Beschämung. Doch dabei werden die Grenzen des Menschen verletzt. Das führt zur Verletzung der Würde und gesellschaftlich in einen Teufelskreis der Gewalt. Die gegenseitigen Verletzungen führen aus der menschlichen Achtsamkeit füreinander, aus Nähe und Verbundenheit. Menschen bauen Schutzwände um sich auf und setzen Masken aus, um sich zu schützen. Machen sich unsichtbar, schwingen nicht miteinander. Entwickeln Perfektionismus, werden Einzelgänger oder entwickeln abhängige Beziehungsmuster.
Obwohl kulturell gängig, darf daher im Streit nie verfolgt werden, den anderen zu beschämen oder zu beschuldigen. Dies würdigt herab, verletzt tief, unterbricht Beziehungen, grenzt aus. Oft wird Scham mit sozialer Schande, Gesichts-, Ehr- und Statusverlust verbunden. Die unantastbare Menschenwürde wurde von und vor anderen entehrt. Akut ist sogar mit Kurzschlussaffekten bis hin zu Selbstmord zu rechnen. Minderwertigkeitsgefühl breiten sich aus bis die Scham gewandelt wird. Herunterschlucken, Verdrängen und Vergessen ins Unbewusste und die Dissoziation von Emotionen sind keine Lösung und vermeiden nicht die Weiterübertragung.
Annehmen, Vergeben und Heilen durch Verbindung
Wer sich schuldig fühlt, leugnet seine Menschenwürde. Die Schuld und Scham braucht Raum zum Heilen. Dazu darf sie angesehen und reflektiert werden. Wo keine Reflexion stattfindet, drohen Projektionen auf Sündenböcke und Feindbilder, um sich selbst zu entlasten. Wenn es umschlägt können dann aus chronischer oder tiefer akuter Verletzung niedere Gefühle wie Hass, Missgunst, Feindseligkeit, Verachtung und Verbitterung nach außen oder Depression nach innen wachsen.
Eine andere Kategorie sozialer Gefühle, die aus dem Fehlen der Verbindung wachsen können, ist Eifersucht. Eifersucht ist ein Mangelempfinden, das aus dem Bewerten, sich Messen und Vergleichen resultiert. Man muss auf der verzweifelten Suche nach Anerkennung Narzissmus überwinden, um wieder ein Gespür für die Menschenwürde und seine Einzigartigkeit zu bekommen. Hinter Geiz und Gier bis zu krankhaftem Ehrgeiz stecken Begehren, Getriebensein bis hin zum Suchtverhalten. Bei Überwindung entsteht erst ein Gefühl für Gelassenheit und das Glück des Mit-Teilen Könnens.
Dienlich mit unangenehmen Gefühlen umgehen
Körper, Gefühle, Gedanken und Verhalten – aber auch Träume als bildhafte Darstellungen seelischer Zustände – sind mit ihren Botschaften Quellen der Selbsterkenntnis. Gerade auch alle unangenehme Gefühle weisen darauf, was in uns präsent ist. Vitalkräfte und Gefühle, die auf unerfüllte Bedürfnisse hinweisen, sind Rauchmelder für die Entwicklung und Wiederherstellung eines gesunden Selbstwertgefühls.
Gefühle und Empfindungen eng mit dem urteilenden menschlichen Denken verknüpft sind. Kommen wir weg vom Denken, können wir uns mit den gerade lebendigen Bedürfnissen verbinden. Dann können wir leichter den Schmerz besehen und es aushalten, dass auch ganz alte Wunden wieder an die Oberfläche des Bewusstseins kommen, statt uns von Negativität und Pessimismus davon tragen zu lassen. Scheitern, Zweifel, Trotz und Wille gehören zum Selbstmanagement einer freien, selbstverantworteten Entwicklung. Emotionen sind die Triebkräfte. Erkennen wir die unerfüllten Bedürfnisse, können wir auch die Schönheit sehen, die in der Erfüllung der Bedürfnisse liegt. Wenn wir empfinden können, wie es wäre, wenn die Bedürfnisse erfüllt werden, dann können wir mit den schmerzvollen Gefühlen unseren Frieden machen. In dem Prozess finden wir Halt in uns selbst.
Das ist Menschlichkeit.
“Zwei Wölfe wohnen ach‘ in meiner Brust…“
Unangenehme Gefühle können so ein Weckruf werden, uns auf unser Denken und Fühlen aufmerksam zu machen. Sie sind keine Dämonen, die wir bekämpfen oder vermeiden müssen. Nehmen wir sie an, fügen sie sich mit ihren Kompetenzen in unser inneres Team ein. Wir werden lebendiger in der Verbindung mit uns selbst, vitaler. Wir lernen positive und negative Gefühle viel differenzierter wahrzunehmen und auszudrücken. Und das ist es, was am Ende gesunde Authentizität ausmacht. Oder wie es Marshall Rosenberg ausdrückte: Wir lachen all unser Lachen und weinen all unsere Tränen. Wir können so durch manches Tal der Tränen gehen, statt Dinge weiter zu verdrängen. So reißen wir die Burg ab, die wir um unser Herz gebaut haben und heilen. Gelingt diese Veränderung der Haltung findet Veränderung auf tiefer Ebene statt.
Je feiner wir Emotionen, Gefühle und Empfindungen bewusst wahrnehmen und sie in der Haltung der Liebe in unser Herz nehmen, umso stärker werden sie uns vertrauenswürdige Signalweiser auf der Reise, uns Selbst in unserer ganzen Tiefe als Person Schicht für Schicht zu entdecken. Wir verbinden Bauch, Kopf und Herz auch im Schmerz. Und es ist am Ende notwendig, um unsere Not zu wenden…
Hinweise:
[0] Gerald Hüther (2012): Wie aus Stress Gefühle werden. Betrachtungen eines Hirnforschers.
[1] Gefühle, Emotionen, Empfindungen sind in der Literatur uneinheitlich definiert. Die hier verwendeten Begriffe lehnt sich an Damasio, Antonio R. (2004): Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn.
- In der Psychologie sind Motive/ Bedürfnisse die Treiber der Handlung. Emotionen werden auf Gefühle verkürzt und eher als Begleiterscheinungen der Bedürfnisse gesehen.
- In der Biologie sind die Emotionen mit ihrer biologischen Funktion die Handlungstreiber. Der Mensch ist auf soziale Gemeinschaft zum Überleben angewiesen. Das Erkennen der Absichten des anderen, erfordert Dechiffrierung emotionaler Signale.
- In der Hirnforschung kam es um 1994 zu einem Paradigmenwechsel durch die Neurobiologen Antonio Damasio und Joseph Le Doux. Es kam zur emotionalen Wende. Frühe Protagonisten wie Gerhard Roth und Luc Ciompi ordneten dem Unbewussten großen Raum in Entscheidungen zu. Damasio erkannte bei Hirnverletzten, dass Entscheiden ohne Emotionen nicht möglich ist.
[2] Sechs Emotionen Angst/ Furcht, Trauer/ Traurigkeit, Ärger/ Wut, Ekel, Überraschung und Freude/ Glück lassen sich kulturunabhängig in der Mimik identifizieren. Vgl. Ekman, Paul (1982): Emotion in the Human Face; Damasio, Antonio R. (2002): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Ullstein Taschenbuch, München.
[3] Vgl. König, Verena (2021): Bin ich traumatisiert? Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen. Das Trauma-Buch für Einsteiger, Knaur Leben.
[4] Emotionen, Gefühle, Empfindungen bilden sich in der nonverbalen Kommunikation als emotionale Rahmung der verbalen Kommunikation ab. Vgl. Damasio, Antonio R. (2002): Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Ullstein Taschenbuch Verlag (List), München. Die an Gefühle gekoppelten unwillkürlichen Körperreaktionen sind es, die durch so g. Lügendetektoren gemessen werden. Auch wenn sie von Gefühlen sprechen, nehmen Menschen mit mangelndem Körperbewusstsein Gefühle selten wahr. Eher sind es Gedanken.
Zugleich lassen sich Köperempfindungen durch Körperarbeit bewusst verändern.
So können wir gezielt Einfluss auf das ganze System nehmen. Hier etwa der berühmte TED-Talk von Amy Cuddy, wie die Körpersprache bzw. gezielte Powerposen unser Empfinden beeinflusst.
[5] Nach dem französischen Philosophen Michel de Montaigne (1533-1592) braucht es tiefe Reflexion, um sich auf geistiger Ebene über seinen Körper zu erhöhen und so die Angst vor dem Sterben zu überwinden. Er hat darum die Überzeugung geprägt: “Philosophieren heißt, sterben lernen.”
[6] Von Soren Kierkegaard stammt die Metapher des Sprungs in den Glauben. Um die Angst zu überwinden hilft nicht der Verstand. Kierkegaard ist der Denker des Paradoxen. Kierkegaard sagte einst: Wo Leben ist, ist Widerspruch und Paradoxie.
[7] Schon in der Antike waren Allegorien etabliert, um Abstrakta als personifizierte Körperlichkeit abzubilden und zu ästhetisieren.
[8] Zu bemerken ist auch, dass Menschen nicht alles mit sich machen lassen wollen und sich für sich einsetzen. Doch scheuen sie oft die direkte Konfrontation. Dann reden sie etwa – aus der Sorge um sich selbst – hinter dem Rücken schlecht.