Buchtipp: Bin ich traumatisiert? Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen, Das Trauma-Buch für Einsteiger, Knaur Leben, 2021.
Verena König trägt mit ihrer Website zur kreativen Transformation und ihren wöchentlichen Podcasts ihren Wissensfundus über Traumatisierung und sanfte, traumasensible Begleitung von Betroffenen in die Welt. In ihrem Buch entfaltet sie ihre menschliche Haltung auf zugängliche Weise und erschließt dem Laien dabei die Welt der modernen Traumapsychologie, die sich stark auf Erkenntnisse der Neurobiologie stützt.
Der Traumatherapeutin ist es ein Anliegen, damit Bewusstsein über die Wirkung und Heilung von Traumata zu schaffen. Damit dort Verbundenheit entsteht, wo zuvor Trennung war. Gerade unverarbeitete frühe Prägungen wirken oft ein Leben lang belastend nach. Dazu gibt sie Übungen zur Regulation des Nervensystems und Ressourcen für schwierige Momente an die Hand. Dazu braucht es Sanftheit, Geduld, Behutsamkeit, soziale Präsenz – so dass sich Störungen in Folge von Trauma mit der Zeit ausschleichen können. Nichts hat für sie eine vergleichbar starke Kraft, Emotionen zu regulieren, Stress zu lösen und sich von unheilsamen Mustern zu trennen, wie das präsente entspannte Zusammensein mit (einem) anderen Menschen. So kann die Welt zu einem harmonischeren Ort werden.
Im Folgenden zum Eindruck über die Tiefe der Inhalte eine Zusammenfassung wichtiger Aussagen aus den vier Kapiteln des Buches.
I. Teil: Grundmodell der Trauma-Arbeit
In der Verbundenheit zu sich selbst besteht Zugang zu unseren ressourcenreichen Anteilen (Ego States) und Selbstheilungskräften. Je balancierter unser Nervensystem, desto größer ist unsere Stresstoleranz. Daneben finden sich in der Persönlichkeit verletzte/ verletzende Schatten-Anteile. Diese haben als Überlebensstrategie ursprünglich einen guten Grund, sind nun aber traumasensibel zu transformieren. Traumatisierte leiden ja nicht mehr an dem ursprünglichen Ereignis an sich, sondern am Umgang mit ihm. An der nicht gelingenden Verarbeitung und Bewältigung sowie den Veränderungen im autonomen Nervensystem/ Stoffwechsel. Dies prägt das Sicherheits- und Stressempfinden der Betroffenen, die mit ihrem dysregulierten Nervensystem keinen festen Halt im Inneren fühlen.
Statt in Verbindung und Frieden zu kommen, kennt das autonome Nervensystem unter Hochstress seine affektiven Antworten im Umgang mit nicht gelösten inneren und äußeren Konflikten:
- Starre: Soziale Unterwerfung in abhängige Beziehungsmuster und unlebendiges Leben (toxische Scham z.B. macht unsichtbar)
- Flucht vor uns und unseren nicht aushaltbaren Gefühlen (z.B. durch Betäubung) bzw. vor dem, was Gefühle auslösen können: Beziehung, Lebendigkeit, Körperlichkeit, soziale Teilhabe, Wenn Menschen über den Grad ihres Funktionierens bewertet werden, werden sie in ihrer fühlenden Natur entwürdigt.
- Verteidigen/ Kampf: Um das Selbstwertempfinden zu verteidigen und sich vor Beschämung und Ohnmacht zu schützen wird der Kampf gegen die eigene Verletzlichkeit geführt – etwa durch Selbst- oder Fremdabwertung oder Perfektionismus.
Folgewirkung
Die Antworten bewähren sich und entwickeln sich auf Dauer zu Bewältigungsstrategien. Dadurch wird der Fluss der Lebensenergie gehemmt. Die Stresstoleranz ist gering, wodurch die stressige Situation nicht verarbeitet und Herausforderungen schnell zur Bedrohung werden. Was nicht verarbeitet und aus dem Bewusstsein ins Unterbewusste verschoben wurde, wird zum latenten Triggerpunkt. Die Kraft der stetigen Verdrängung ist endlich. Das unbewusste chronische Stresserleben laugt aus und macht krank. Zur Versorgung von alten seelischen Verletzungen braucht es darum v.a. einen sicheren Raum, einen entspannten Körperzustand und einen sicheren Halt im Hier und Jetzt durch eine hilfreiche Begleitperson und/oder eine fest installierte Beobachterposition. Die Bedingungen ermöglichen, verletzte/ verletzende Anteile zu betrachten und im Hier und Jetzt korrigierende Erfahrungen zu sammeln – ohne zu retraumatisieren.
II. Teil: Macht von Traumas und Unverbundenheit
Das starke Bindungsbedürfnis des Menschen ist die Grundlage seines sozialen fühlenden Wesens, durch das er für Gruppendynamik so empfänglich ist. Trauma ist erlebter Sicherheits- und Bindungsverlust und wird als solches auch über neue Bindungserfahrungen geheilt. Viele Schock- oder Komplextraumata (toxischer Stress über lange Zeit) sind durch frühe Bindungs- und Entwicklungstraumata evoziert, da gerade in der abhängigen Kindheit das Beziehungsumfeld prägend ist. Nichtbewältigte seelische Verletzungen werden dann im weiteren Leben zur Ursache vieler Symptome. Verbundenheit als Grundbedürfnis unseres sozialen Wesens und ist der Schlüssel zur Bedürfnis-Regulation und Heilung: Co-Regulation bleibt zeitlebens das Heilmittel. Es stillt das Bedürfnis nach Trost und emotionalem Halt, ist Balsam für die Seele und Basis jeder Selbstregulation. Damit ist gemeint, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich das System selbst heilt und das Nervensystem im Gleichgewicht bleibt.
Menschen brauchen sich gegenseitig – ohne dass Nichttraumatisierte diese Interdependenz als Ohnmacht erleben. Um Folgestörungen von (v.a. frühen) Traumata zu überwinden ist darum ein Weg aus der inneren Isolation und anderen Kompensationsstrategien zu finden, in denen wir Verbundenheit zu uns selbst, zu anderen, zum Leben und der Welt verloren haben und uns von uns selbst distanzieren. Der Preis der Unverbundenheit ist hoch: verlernen sich und seine Grenzen zu spüren, unauthentisch statt wir selbst sein. Wenn ein hochsensibler Mensch die Verbundenheit mit sich selbst verloren hat, wird er von Anderen und vom Außen und seinen Strategien abhängig. Bei unerstättlicher Bedürftigkeit – da Gefühle, Bedürfnisse und Gaben nicht angenommen werden – kommt es nie zur Erfüllung. So sind gerade Menschen mit der frühen Wunde unerfüllter seelischer Bedürfnisse abgeschnitten von den anderen und dem Leben, das vor ihren Augen abläuft.
III. Teil: Heilung seelischer Verletzungen und Achten der Verletzlichkeit
Selbstreflexion und seinen inneren Anteilen auf die Spur kommen
Wo nicht reflektiert wird, wird projiziert. So sagt Verena König, dass es ein Liebesdienst an uns und unseren Kindern ist, sich selbst zu reflektieren. Kann seelischer Schmerz nicht transformiert werden, wird er weitergegeben und es entsteht ein Teufelskreis des Schmerzes. Durch den Mangel an Reflexion und daraus folgende Projektion kommt es zu niederen Gefühlen wie Neid, Missgunst, Niedertracht, Feindseligkeit, Hass. Der Mensch ohne Verbundenheit ist von seinem fühlenden Wesen entfernt. Sich empathisch einzufühlen würde bedeuten, berührbar zu sein und sich berühren zu lassen vom Herz und Schmerz von Menschen. Wir können entscheiden, ob die Kette des Schmerzes weiter geht. Trauma ist so nie nur ein individuelles Geschehen, sondern hat Ursachen in und langfristige Auswirkungen auf ein Kollektiv, ein System.
Seelisches Heilsein ist ein Zustand tiefer Verbundenheit mit sich selbst, in dem lebendig das Leben fließt. Im Körper als Symptome feststeckende Lebensenergie transformieren sich durch liebevolle Hinwendung. Dazu ist ein Gefühl für die Sprache unseres Nervensystems, unserer affektiven Verhaltensweisen, und unseres Körpers zu entwickeln. Selbstregulation bedeutet in dem Sinne, unsere inneren Zustände halten können, ohne davon überflutet zu werden. Mit uns und unseren Bedürfnissen verbunden zu sein. Zwischen Reiz und Reaktion einen Raum der Leere zu erzeugen.
Unsere Verletzlichkeit macht unsere Menschlichkeit aus
Um heilen zu können gilt es den Schmerz zu integrieren, statt ihn zu amputieren. Es bedarf, dass wir uns entschleunigen und uns aufrichtig mit unseren Bedürfnissen auseinander setzen. Das Immunsystem kann sich beim Sinken des Stresslevels regulieren. Es entsteht ein Gespür für den eigenen Rhythmus. Das Atemmuster verändert sich in der Entspannung, der Atem und Tonlage werden tiefer. Es entsteht Raum und Gelassenheit. Wir können besser in Kontakt bleiben, Dinge weniger auf uns beziehen. Augenhöhe wird möglich. Die Qualität unserer Gedanken und Bewertungen ändert sich. Wir werden differenzierter, liebevoller, nehmen leichter Hilfe an, drücken Gefühle aus und zeigen uns verletzlich wie wir sind. So entwickeln wir unsere Menschlichkeit.
Wunden zu heilen führt nicht zur Unverletzlichkeit. Sind wir uns unserer verletzlichen Natur bewusst, geht es nicht mehr darum, Dinge auszuhalten, sondern uns würdevoll zu behandeln. Unser Inneres als Referenz für unsere Grenze anzunehmen. Trauma ist für so viel Leid in der Welt verantwortlich. Wundervolles geschieht, wenn wir zu uns umkehren und unserem tiefen Instinkt der Menschlichkeit folgen. Wir werden weise und verbunden.
IV. Teil: Inspiration und Übungen
Der letzte Teil gibt Inspiration für den praktischen Weg zu mehr Stresstoleranz und Resilienz mit. Um Gefühle, Emotionen und Körperempfindungen halten und durchleben zu können und so in die achtsam Präsenz und die eigene Lebendigkeit zu kommen. Konkrete Übungen wie tiefes Einatmen, um Energie aufzunehmen und aus der Untererregung zu kommen bzw. tief Ausatmen, um aus der Übererregung zu kommen bieten sich als alltagstaugliche Instrumente an. Auch die bewusste Orientierung im Raum, der aufrechte Sitz, sanfte Dehnen und Entspannen der Muskeln, Spüren der Körpergrenzen und der Schwerkraft.
Für mich ist das Erstlingswerk von Verena König ein ganz außerodentlich warmherziges und tiefes Ratgeberbuch. Was sicherlich an seiner sensiblen Sprache liegt. Die Autorin ist damit nicht ohne Grund auf der Spiegelbestsellerliste zu finden…
Wundervolle Zitate aus dem Buch „Bin ich traumatisiert?“ von Verena König
- Menschen beginnen in dem Augenblick zu heilen, in dem sie sich gesehen fühlen.
- Was du an dir am meisten ablehnst, war vermutlich einmal lebensrettend.
- Nichts verdient mehr Behutsamkeit und Sanftheit als das Innere eines verletzten Menschen.
- Wenn wir Verletzlichkeit achten als das, was unseren Beziehungen Tiefe verleiht und unserem Leben Authentizität schenkt, dann öffnet sie unsere Herzen. Wenn wir Verletzlichkeit als Wert feiern, der uns berührbar und einzigartig macht, werden wir achtsamer mit uns selbst und anderen umgehen.
- Einsamkeit gefährdet unsere Zukunft. Nur als Gemeinschaft können wir individuell und kollektiv heilen.
- Wir müssen uns selbst heilen, um etwas in der Welt heilen zu können. Dazu braucht es die innere Haltung der Empathie, des Füreinanders, der Menschlichkeit, die die Würde des anderen achtet.
- Kindheitstraumata müssen verhindert, erkannt und aufgefangen werden.
- Wenn wir gegen etwas kämpfen, verletzen wir auch uns selbst. Je verbundener wir mit uns selbst sind, desto friedvoller ist es in uns und um uns herum.
König, Verena (2021): Bin ich traumatisiert? Wie wir die immer gleichen Problemschleifen verlassen. Das Trauma-Buch für Einsteiger, Knaur Leben.