Die alte Dame mit dem Überraschungsei zeigt, wie wichtig es ist, sich im Alltag Zeit für Wesentliches zu nehmen: den Moment.
Ein Student jobbte als Kassierer im Supermarkt. Eine alte Dame berührte ihn dabei tief:[*]
Frau Hegemann kam einmal in der Woche – immer samstags, immer um Punkt 13 Uhr. Sie war eine kleine alte Dame mit einem langen lila Mantel. Den hatte sie immer an. Außerdem trug sie auf ihrem Kopf eine goldbraune Perücke, die oft etwas zerzaust war. Trotz ihres stolzen Alters von 88 Jahren, erledigte sie alles eigenständig. Sie wog das Gemüse ab, verglich die Preise, und legte jeden ihrer Einkäufe selbst auf das Fahrband an der Kasse. Nie hat diese Frau verbittert oder grimmig ausgesehen. Selbst wenn ein Ungeduldiger hinter ihr an der Kasse stand und nörgelte, sie solle doch schneller machen. Sie lächelte einfach und sagte: „Sie sehen, ich bin nit die schnellste, aber dat hier hält mich fit“. So wurde die alte Dame schnell zur liebsten Kundin des Studenten. Sie konnte schöne und witzige Anekdoten erzählen, hatte aber auch ein offenes Ohr für ihn.
Einmal erzählte er ihr, wie ein Mädchen bei einem Date das Restaurant verlies, nur weil er ihr erzählte, dass er Figuren aus Überraschungseiern sammelt. “Wer nit sammeln kann, kann auch nit sparen, mein lieber Herr Kassierer“ war Frau Hegemanns Antwort „Jut, dat sie die verschwenderische Schrulle los sind!“ Fortan pflegte die alte Dame ein kleines Ritual an der Kasse. Das letzte, das sie immer auf die Kasse legte waren drei Überraschungseier. Nachdem sie die Eier bezahlt hatte, drückte sie ihm eines davon in die Hand. Die anderen beiden steckte sie in ihren Mantel „Eins für meinen lieben Herrn Kassierer und zwei für meine beiden Enkelchen“. Samstag für Samstag bekam der Student nun ein Überraschungsei. Immer sagte sie „Eins für meinen lieben Herrn Kassierer und zwei für meine beiden Enkelchen.“ Dies ging ein halbes Jahr so. Woche für Woche. Bis Frau Hegemann auf einmal nicht mehr kam.
Die Überraschungseier
Ein Woche verging. Zwei Wochen vergingen. Jeden Samstag 13 Uhr starrte der Student nun vergeblich zum Eingang. Doch kein lila Mantel. Keine zerzauste Perücke. Es verging noch eine Woche. Dann, an einem späten Nachmittag klingelte es zuhause an der Tür des Studenten. Vor ihm stand ein großer Kerl mit Bart und Halbglatze. Er war unsicher. „Arbeiten Sie im Supermarkt an der Kasse?“ Der Student nickte . „Ich bin Frank Hegemann. Meine Mutter ist vor ein paar Wochen von uns gegangen. Ich hatte die schwere Aufgabe, ihre Wohnung aufzulösen. Dabei habe ich das hier gefunden“. Erst jetzt bemerkte der Student die Tüte in der rechten Hand des Besuchers. Sie war voller Überraschungseier. Auf ihr klebte ein Zettel: „Für meinen lieben Herrn Kassierer“.
Und Herr Hegemann fuhr fort: „Zunächst konnten wir damit nichts anfangen. Ich habe bei Ihrer Chefin nachgefragt, ob es einen Kassierer gibt, den meine Mutter damit gemeint haben könnte. Sie gab mir Ihren Namen und Ihre Adresse.“ Er überreichte dem Studenten die Tüte mit den Worten „Meine Mutter wollte, dass sie dies hier erhalten“ und verschwand ohne auf eine Reaktion zu warten. Der Student schaute sich die Überraschungseier etwas genauer an. Es waren 48 Stück. Einige waren schon abgelaufen. Andere nicht. Die meisten hatten unterschiedliche Verfallsdaten. Sie waren ursprünglich gar nicht für den Studenten bestimmt, sondern für die Enkelchen. Sie wurden nur nie abgeholt.
Die Kostbarkeit des Moments
Wie wichtig es ist doch, dass wir im Alltag den Moment achten und uns Zeit für die „Kleinigkeiten“ nehmen, für Gespräche, für Beziehung. Dass wir uns Zeit für unsere Älteren nehmen, für die ein bißchen zugewandte Zeit oft ganz besonderen Stellenwert hat. Das Leben selbst ist wie ein Überrachungsei. Darum geht es auch in der Geschichte einer anderen alten Dame und ihrer Taxifahrt…
[*] Nach der Erzählung einer persönlichen Geschichte von Markus Brandl.