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Reitz, Michael (1. Aufl. 2014)

von Nov 29, 2021Buchtipps

Helm Stierlin. Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie, Carl Auer Verlag, Heidelberg.

Im September 2021 ist Wilhelm Paul Stierlin im Altern von 95 Jahren verstorben. Stierlin gilt als Nestor der Familientherapie in Deutschland. Als Gründungsvater der Heidelberger Schule entfaltete er seinen Einfluss auf die Entwicklung der Psychotherapie und des systemischen Ansatzes in Deutschland. Einen Nachruf voller Tiefe von seinem Schüler Hans Rudi Fischer finden Sie hier.

Mit der ersten und bislang noch einzigen Biografie „Heim Stierlin. Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie“ würdigt Reitz das Lebenswerk von Stierlin. Zugleich nimmt diese den Leser mit auf eine Reise durch die Entwicklung systemischen Denkens in Deutschland.

 

In 5 Kapiteln bzw. über 5 Stationen beschreibt Reitz Leben und Wirken von Helm Stierlin:

Das 1. Kapitel widmet sich der Herkunftsfamilie in Nazi-Deutschland. Hier werden Kindheit und Jugend als ältester von 3 Brüdern, Studium und Doppel-Promotion beschrieben. Es umfasst die Zeit von der Geburt 1926 in Mannheim über die Promotion in Philosophie bei Karl Jaspers 1950 an der Universität Heidelberg. Weiter bis zu seiner Promotion in Medizin 1955 an der LMU München und seinem Weggang in die USA 1957.

Das 2. Kapitel widmet sich Stierlins nur kurz unterbrochenen Jahren in den USA von 1957-1974. Es lautet „Die Geburt der systemischen Familientherapie aus dem Geist der Kommunikation – Der Sinn von Krankheit“. Es zeigt, wie Helm Stierlin an systemtheoretischen Ansätzen in diversen psychiatrischen Einrichtungen in den USA mitgewirkt und dort die wichtigsten Pioniere der Familien-Therapie kennengelernt hat. Darunter Gregory Bateson. Milton H. Erickson, Jay Haley, Margaret Mead, Virginia Satir. Die Forschergruppe am Mental Research Institute in Palo Alto bringt ihn mit dem systemischen Denken in Berührung: Nämlich der Idee, dass Menschen sich als soziale Wesen abhängig vom sozialen Gefüge verhalten, in dem sie sich bewegen.

Kapitel 3 erzählt von Stierlins Ruf 1974 mit den neuen Ansätzen an die renommierte Universität nach Heidelberg auf die für ihn neu eingerichtete „Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie“. Den Lehrstuhl bekleidete er bis zur Emeritierung 1991.

Kapitel 4 beschreibt den Kern der Arbeit und des Perspektivwechsels von Helm Stierlin. „Das Heidelberger Modell der systemischen Familientherapie“ und seine offene Weiterentwicklung prägte das systemische Feld in Deutschland. Anfangs galt es als experimentell und stand der üblichen therapeutische Praxis entgegen. Doch Stierlin hat es mit seinem kleinen Team in Heidelberg über 1974-1991 produktiv zum Erfolg gemacht. Zum Team zählten etwa Systemiker wie Gunthard Weber, Gunther Schmidt, Fritz B. Simon, Hans Rudi Fischer. Die finale Abkopplung vom der Psychoanalyse brachte der Einfluss der „Mailänder Schule“ und nach 1980 radikal konstruktivistisches und hypnotherapeutisches Gedankengut. Das Team der Heidelberger Schule entwickelte sich damit zu einem wegweisenden Institut der Systemik in Deutschland. Die philosophische Begründung der Heidelberger Systemik ist bis heute zweifellos von Stierlin angeregt und blickt auf eine lange Heidelberger Tradition zurück.

Ein ihm eigenes systemisches Verständnis von Führung lebte er in seinem Team vor. Keine Weisung dafür ein unbedingter Vorschuss an Vertrauen und radikale Anerkennung des Beitrags, Augenhöhe, gegenseitige Loyalität, sich gegenseitig in der Entwicklung stärken. Sinn, Großzügigkeit, Kreativität teilen. Dafür lieferte er in Person ein Vorbild bescheidener Führung, das seiner Zeit wohl weit voraus war und bei teamfähigen Menschen enorm die Entwicklung beschleunigen kann.

Das finale 5. Kapitel wirft einen Blick auf das Wirken von Emeritus Helm Stierlin als Historiker und Sozialphilosoph. Das Buch von Stierlin „Nietzsche, Hölderlin und das Verrückte. Systemische Exkurse“ aus dem Jahr 1992 sowie ein Interview des Autors mit Helm Stierlin machen das Kapitel aus.

 

Fazit

Ein Buch, das das Leben des Menschen Helm Stierlins und die Geschichte des systemischen Ansatzes in Deutschland nachzeichnet. Ab den 1980ern verbreitete sich der systemische Ansatz in der sozialen Arbeit, und zunehmend in Coaching und Beratung. Es war jedoch noch ein weiter Weg für Therapeuten wie Helm Stierlin, das Verfahren in Deutschland in medizinische Einrichtungen zu etablieren. Doch hat es Stierlin selbst noch erlebt: Spätestens seit 2020 haben die Krankenkassen nun auch offiziell die systemische Therapie – neben Psychoanalyse und Verhaltenstherapie – als dritten Ansatz der Therapie anerkannt.

 

Reitz, Michael (2014): Helm Stierlin. Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie. Carl Auer Verlag, Heidelberg.


 

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