0621 | 44596656 info@ruhl-consulting.de

Das Wunder Friedliche Revolution: Die Macht der Vielen

von Nov 2, 2019Impulsgeschichten

Die friedliche Revolution von Leipzig 1989 ermutigt zur Hoffnung, dass – wenn gute Fügung hinzu kommt – Veränderungen möglich sind, von denen wir nicht zu träumen wagen. Wenn genügend viele Menschen das Thema zu ihrem Anliegen und sich auf den Weg machen, wenn sie ihre Furcht durch eine gemeinsame Hoffnung überwinden und sich dabei gegenseitig inspirieren.

 

Gorbatschows Friedenspolitik

Der Wandel begann im Kreml – u.a. mit dem Lesen des Buchs von Franz Alt zur Bergpredigt [Franz Alt (1980): Frieden ist möglich: Die Politik der Bergpredigt]. Michail Sergejewitsch Gorbatschow beschloss mit dem Wettrüsten und den Feindbildern aufzuhören. Egal was der Westen tut. Von Bismarck über Helmut Schmidt bis Helmut Kohl hatten sich deutsche Realpolitiker immer wieder positioniert, mit der Bergpredigt könne man nicht regieren.

Anders agierten Martin Luther King in den USA, Mahatma Gandhi in Indien gegenüber der Abhängigkeit von der Großmacht England und Nelson Mandela sowie Bischof Tutu in Südafrika gegen die Rassentrennung und der Dalai Lama im Tibet gegen die Menschheitsverbrechen der Chinesen.[Weitere Beispiele in: Church and Peace, Pax Christi und Deutsches Mennonitisches Friedenskomitee (2016): Gewaltfreiheit wirkt! 55 Erfolge für die Gewaltfreiheit aus den vergangenen hundert Jahren] Sie alle haben sich auf Jesu Bergpredigt bezogen. Der schnelle Erfolg ist ihnen damit nicht garantiert, es erfordert Geduld, Beharrlichkeit und Vertrauen in das gute Ende. Jesus landete am Kreuz, Mandela war 28 Jahre im Gefängnis für seine Überzeugung und Gandhi wurde wegen seiner Politik der Gewaltfreiheit ermordet. Aber ihre Werke wirken bis heute fort.

Gorbatschow nun wollte der Menschheit im Zeitalter atomaren Wettrüstens ein Überlebensprogramm geben. Er hatte den Mut und begann eine Politik des einseitigen Abrüstens im Vertrauen auf die weltweite Friedensbewegung. 

Leipzig und seine Friedensgebete in der Nikolaikirche seit 1982

Seit September 1982 beging eine Gruppe von Wehrdienstgegnern in der Leipziger Nikolaikirche auf Vorschlag von Pfarrer Christoph Wonneberger hin montags Friedensgebete. Ab 1986 übernahm er selbst deren Koordination. Die Gründung der Arbeitsgruppe Menschenrechte brachte ihn seit Anfang 1987 in Konflikte mit staatlichen und kirchlichen Stellen. Ab nun wurde die Nikolaikirche mehr und mehr zu einer festen Institution des Protests gegen das Regime, indem oppositionelle Gruppierungen und Künstler abwechselnd Andachten gestalteten und ihre politischen Inhalte vertraten.

Im September und Oktober 1989 nahmen die Ereignisse der Friedlichen Revolution in Leipzig ihren Lauf.

Friedliche Revolution in Leipzig in 9-11/ 1989

Wegen der Leipziger Messe und der Präsenz der Westpresse blieben am 4.9.89 die 1.000 Demonstranten nach dem Friedensgebet unbehelligt. Der Abriss der Transparente für demokratische Freiheitsrechte wurde gefilmt und über das West-Fernsehen ausgestrahlt. An den folgenden Montagen lösten Polizei und Staatssicherheit (Stasi) die Versammlungen nach den Friedensgebeten durch Verhaftungen auf. Wonneberger informierte nun nach jedem Montagsgebet das aufgebaute Netzwerk westlicher Journalisten telefonisch über die Ereignisse in Leipzig.

So stellte er sicher, dass eine breite Öffentlichkeit von den Verhaftungen in Leipzig, den stetig wachsenden Ansammlungen und Demonstrationen erfahren konnte. Das löste in der ganzen DDR Solidaritätsaktionen aus. Beim Friedensgebet am 25.9. musste die Nikolaikirche wegen Überfüllung geschlossen werden. Vor der Kirche warteten Tausende. Drinnen mahnte Wonneberger, keine Gewalt anzuwenden. Danach protestierten etwa 5.000 Personen. Die von der Masse überraschte Polizei griff nicht ein. Das war der Auftakt. Die Nikolaikirche wurde zum Symbolort des friedlichen Protestes.

Wegen des wachsenden Andrangs fand am 2.10. das Friedensgebet erstmals auch in der reformierten Kirche statt. Am Abend formierten sich fast 20.000 Menschen zum Montagsprotest und zogen auf den Ring. Gegen die Massen setze die Polizei brutal Schild, Schlagstöcke und Hunde ein. Doch die Masse konnte sie nicht auflösen.

Gorbatschows Sorge vor dem chinesischen Weg

Dann stand die Feier zum 40. Jahrestag der DDR am 7.10. an. Gorbatschow zögerte, der Einladung Erich Honeckers nach Berlin zu folgen. Honecker machte keinen Hehl daraus, dass er von den Reformen Gorbatschows, Glasnost (Offenheit, Meinungs- und Pressefreiheit) und Perestroika (Demokratischer Umbau), nichts hielt. Gorbatschow befürchtete, dass Honecker die Revolution so wie Chinas Führung die Studentenproteste im Juni 1989 mit Gewalt niederschlagen würde. So reiste er zu den 40-Jahr-Feiern der Republik nach Ost-Berlin.

Beide Staaten begingen fast zeitgleich ihren 40. Jahrestag – die Volksrepublik China am 1. Oktober 1989 und die DDR am 7. Oktober. Die Ereignisse in der DDR waren vor einer Wegscheide: Sie hätten leicht auch den chinesischen Weg gehen können.

Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens

Seit April 1989 besetzten Pekinger Studenten den Platz des Himmlischen Friedens und demonstrierten dort täglich für Demokratie mit täglichen Protesten und Hungerstreiks. In Gorbatschow sahen sie einen Hoffnungsträger. Die wegen seinem Staatsbesuch am 15.5. in Peking anwesende internationale Presse machte die Demokratiebewegung in China weltweit bekannt. Zu der Zeit war etwa eine Mio. Menschen auf dem Platz. Danach riefen die Parteioberen das Militärrecht aus, um der Aufruhr ein jähes Ende zu bereiten und das sozialistische System zu stabilisieren. Am 20. Mai wurden der Auslandspresse nach der Abreise Gorbatschows die Satellitenverbindungen gekappt.

Für Peking wurde der Ausnahmezustand erklärt und die Armee formiert. Am Abend des 3.6. bewegten sich Soldaten in voller Ausrüstung mit Panzern aus mehreren Richtungen auf die Innenstadt zu. Die Militäreinheiten stießen auf Barrikaden und setzten immer rücksichtsloser Schusswaffen  gegen die Menge ein. Die zunehmende Gewalt gegen die eigene Zivilbevölkerung führte zu einer Eskalation in einem brutalen Militäreingriff am 4.6.1989, in der auch Soldaten getötet wurden. Obwohl der Widerstand bereits gebrochen war, setzt sich der Rausch der Gewalt in der Stadt am 5. Juni fort. Schätzungen sprechen von 10.000 Verwundeten und 3.000 Toten bei dem Massaker.

Jahrestag der DDR am 7.10.

Die Führung der DDR sympathisierte offen mit dem harten chinesischen Vorgehen gegen die Proteste. Dies war sicher auch ein Auslöser für die Welle der Massenflucht aus der DDR im Spätsommer 1989 über Ungarn, Polen und die CSSR. Politiker wie Günter Schabowski und Egon Krenz besuchten China am 1.10. zu den 40-Jahr-Feiern und lobten die blutige Niederschlagung des Aufstandes. In der Zuspitzung der Ereignisse in Leipzig wuchs daraus die Furcht, die Staatsführung der DDR könne sich für eine „Chinesische Lösung“ entscheiden. V.a. seit die  Nationale Volksarme ab dem 6.10. in „erhöhte Gefechtsbereitschaft“ versetzt wurde…

Als Gorbatschow nun in dieser kritischen Phase am 7.10. zusammen mit Honecker in Berlin auf der Tribüne stand, feierte die vorbeiziehende FDJ, die kommunistische Jugendorganisation, statt der DDR spontan „Gorbi, Gorbi“. Und obwohl in Leipzig die Nikolaikirche am 7.10. geschlossen war, versammelten sich dort spontan zeitweise über 4.000 Leute. Die Polizei ging brutal nun auch mit Wasserwerfern vor. Das Regime hatte den Einsatz von Schusswaffen bereits offen angedroht. Es bereitete ein gewaltsames Einschreiten vor.

Die friedliche Revolution auf des Messers Schneide

Wegen der Gewaltandrohung des Regimes ließen Pfarrer Wonneberger und seine Mitstreiter am 8./9.10. fast 30.000 der legendären Flugblätter drucken. Sie wurden am 9.10. in Leipzig verteilt und in den Kirchen zum Friedensgebet verlesen. Auch die Leipziger Bürgerrechtler, Leipziger Persönlichkeiten sowie selbst Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) riefen Sicherheitskräfte und Demonstranten zu strikter Gewaltlosigkeit auf. Doch noch am Nachmittag des 9.10. wurden MG-Schützen in Leipzig positioniert und ihnen bei Befehlsverweigerung mit Militärgericht gedroht.

Trotz ihrer Ängste demonstrierten am 9.10. nach den Friedensgebeten in vier Kirchen in Leipzig mindestens 70.000 Menschen mit den Losungen „Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk“ gegen das Regime. Die Friedensbeter haben die Hoffnung der Furcht vorgezogen. Tausende waren nach Leipzig gereist. Angesichts dieser Massen zogen sich die Sicherheitskräfte zurück. Da sie den SED Chef Honecker nicht telefonisch erreichen konnten, entschieden sich die Leiter der Einsatzkräfte – auf sich gestellt – für das Aufheben des Einsatzbefehls. Die Sicherheitskräfte griffen nicht mehr ein. Der dadurch ermöglichte friedliche Ausgang des 9.10. war ein entscheidender Durchbruch für die friedliche Revolution .

Am Abend gab Wonneberger ein Live Interview in den Tagesthemen der ARD und berichtete der Weltöffentlichkeit von der friedlichen Demonstration in Leipzig mit 70.000 Teilnehmern.

Friedliche Revolution mit Kerzen und Gebeten, ohne Gewalt

Am 13.10. verbot Krenz den Gebrauch von Schusswaffen bei Demonstrationen. Die Zahl der Montagsdemonstranten wuchs wöchentlich weiter. Am 16.10. waren es 120.000. Die Menschen ließen sich schlagen, beschimpfen, einsperren. Aber sie ließen sich nicht einschüchtern und sich v.a. nicht zur Gewalt hinreißen. Am 18.10. wurde Erich Honecker in desolatem Gesundheitszustand offiziell von Egon Krenz, dem langjährigen Stellvertreter, abgelöst. Die Proteste ergriffen das ganze Land. Ein Hirninfarkt am 30.10. machte Wonneberger auf der letzten Etappe zum „Pfarrer ohne Worte“ – seine Heilung dauerte viele Jahre.

Am 1.11. folgte Krenz einer Einladung Gorbatschows nach Moskau. Am 3.11. unterzeichnete Krenz das Verbot für Schusswaffen auch für die für Berlin angekündigte Großdemonstration am Folgetag. Der Protest gegen den totalitären Staat ging in Leipzig – allein mit Kerzen und Gebeten – weiter und erreichte am 6.11.1989 seinen Höhepunkt. Trotz strömendem Regens nahmen fast 500.000 Menschen teil. Es war die größte Protestdemonstration in der Geschichte Leipzigs. Immer deutlicher forderten die Menschen die Aufgabe des Machtmonopols der SED, demokratische Freiheitsrechte und Strukturen. Immer wieder riefen sie “Keine Gewalt“.

Grenzöffnung am 9.11.1989

Am 9.11. hielt das Zentralkomitee eine Tagung. Krenz gab Günter Schabowksi eine Pressemitteilung, auf der der gefasste Reisebeschuss stand. Schabowski verkündete in der Pressekonferenz die neue Reiseverordnung versehentlich als unverzügliche Reisefreiheit in den Westen. Die Tagesschau berichtete, dass die DDR die Grenzen öffnet. Das löste einen Strom zu den Grenzübergängen aus. Egon Krenz gibt keine Anweisungen mehr. Die auf Befehl und Gehorsam geübten Offiziere von Stasi und Nationaler Volksarmee sind überfordert. Im wachsenden Druck der Massen auf die Tore der Mauer in Berlin, öffnet ein Oberstleutnant um 23.30 Uhr die Grenze, um ein größeres Chaos zu vermeiden.

Das ist der Fall der Mauer in Berlin. Ein Wunder der friedlichen Revolution vor unseren Augen, ein Zeichen der Hoffnung, geboren aus Chaos und Verwirrung und beherzten friedlichen Entscheidungen. In Leipzig zogen 10.000de in Gedenken an die Reichsprogromnacht 1938  mit Kerzen durch die Stadt. Frieden schaffen ohne Waffen, ohne Gewalt – was gewaltlosen Menschen nur wenige Monate zuvor rund um den “Platz des Himmlischen Friedens” ebenso wie gewaltlosen Juden in der Reichsprogromnacht das Leben kostete – in Leipzig wurde es wahr. Es hätte alles so leicht ganz anders ausgehen können, blutiger, gewalttätiger. Aber das geschah nicht.

Mit den Gebeten haben die Menschen in Leipzig ihre Hoffnung in Gottes Hand gelegt. Stammeln, Schweigen, Verwirrung, Missverständnisse beim Zentralkomitee. Die Staatsoberen konnten sich nicht mehr verständigen, sie verstanden nach 40 Jahren die Welt nicht mehr. Einzelne entscheiden, nicht zu schießen und die Leute zu lassen. Menschen, beharrlich und entschieden in der Sprache der Gewaltlosigkeit kippen das totalitäre Regime in Berlin, ohne dass jemand dabei verletzt oder getötet wurde.

Ende des Kalten Krieges und Deutsche Wiedervereinigung

Die deutsche Wiedervereinigung war nicht auf der Agenda der Demonstranten gegen die Diktatur. Sie war Folge der friedlichen Revolution in der DDR. Die Öffnung der Berliner Mauer am 9.11.1989 bewirkte den endgültigen Zerfall des politischen Systems der DDR.

Die Deutsche Einheit wurde mit Gorbatschow möglich. Beim Gipfeltreffen Gorbatschows mit George Bush sen. am 2-3.12.89 auf Malta erklärten die beiden den Kalten Krieg als beendet und die Hoffnung, sich am Anfang eines langen Weges in eine friedliche Ära zu befinden. Gewaltandrohung, Misstrauen und Kampf sollten der Vergangenheit angehören. Gorbatschow versicherte, nie einen Atomkrieg gegen die USA zu beginnen. Bush sah sich am Beginn eines dauerhaften Friedens in der Ost-West-Beziehung. Die DDR war Teil des Sowjetischen Regimes. Am 3.12.1989 trat das Politbüro der SED inkl. Egon Krenz, der in den Folgetagen alle Ämter niederlegte, nach massiven Protesten geschlossen zurück.

Anstelle von Nato und Warschauer Pakt hoffte Gorbatschow auf ein neues System der kollektiven Sicherheit. Er löste den Warschauer Pakt auf und stimmte Anfang 1990 der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO zu. Im Westen wird Gorbatschow geliebt, weil er den Kalten Krieg beendete. Und da er maßgeblich am Gelingen der deutschen Einheit bis zum Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland am 3.10.1990 – nach vier Jahrzehnten der deutschen Teilung – beteiligt war. Innenpolitisch schwächte das Gorbatschow aber: In Russland galt er als Verräter, der das Land demütige und den Zerfall der Sowjetunion kanalisierte, statt nationalistische Interessen zu vertreten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 sah der Westen Russland nicht mehr als Ordnungsmacht.

Friedensnobelpreis 1990

Für seinen Beitrag zum Friedensprozess in der Welt und zur friedlich erfolgten deutschen Wiedervereinigung erhielt Gorbatschow am 10.12.1990 den Friedensnobelpreis. Hunderttausende von Menschen an seiner Seite, die massenhafte aufstanden und keinen Anlass gaben, ihnen Gewalt anzutun, können ein Positivbeispiel für Konfliktlösungen mit der Macht der Vielen geben – mit der Hoffnung: Es hat ja doch einen Sinn. Viele kleinen Leute zusammen können besonnen, mit Mut zum Aufbruch und mit Geduld viel zur Veränderung beitragen.

 

Quellen:

  • App “Leipzig ’89”, Audioguide zu 20 geschichtsträchtigen Orten rund um die Friedliche Revolution.
  • Alt, Franz (2019): Der Geist Gottes weht, wo er will. In: der Pilger, Winter 2019, S. 119-120.
  • Diverse andere Erzählungen von Zeitzeugen.
Wunder1989

 

Inspiration durch Impulse

Die digitale Transformation vernetzt und verändert unsere Welt. Wissen wird schnell in z.T. höchster Qualität virtuell geteilt. Einfach nur ins Web gestellt. Es kann so laufend in immer neuen Kontexten neu verknüpft werden. Immer neue Inspiration regt die Reflexion, den Abgleich der eigenen Sinne und soziale Interaktion an. Wir leisten da bewusst einen Beitrag, wo es von der Oberflächlichkeit weg um Vertiefeng der Gedanken geht. Um Lösungen in die Umsetzung zu begleiten. Von Mensch zu Mensch, Face to face. Wir freuen uns, wenn es Sie erreicht.

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie 4x im Jahr unsere neuen Beiträge des letzten Quartals auf einen Blick bequem per Mail.