Wie definiert sich soziale Macht als Einfluss auf andere? Wie passen die Konzepte von Machiavelli bis zur GFK (Gewaltfreie Kommunikation) und Systemik mit der ihnen impliziten Haltung zur modernen Arbeitswelt des New Work? Und wie lässt sich blinden Flecken an der Spitze der Organisation begegnen?
Nach Studien von Keltner ist das klassische Verständnis von Macht bis heute nachhaltig von Nicolò Machiavelli geprägt.[1] 1513 waren Folter, Mord, Vergewaltigung, Verletzung von Menschenrechten noch an der Tagesordnung und wurden kaum reguliert. In dieser Zeit verfasste Machiavelli sein Werk „Il Principe – der Fürst“. Darin zeichnet er ein Bild von Macht, das an das Ausüben von Dominanz, Zwang und Gewalt gekoppelt ist.
Ganz allgemein aber dürfen wir soziale Macht als kommunikative Fähigkeit verstehen. Nämlich, mit oder ohne Gewal andere beeinflussen zu können, um etwas in der Welt zu bewirken.[2] Persönliche und soziale Macht haben im wahrsten Sinne des Wortes damit zu tun, etwas selbst oder über Einfluss auf andere (Resonanz) – also unmittelbar oder mittelbar – „zu machen“. In diesem Sinne bestimmt Macht Alltag und Miteinander in sozialen Systemen.[3] Entgegen der alten machiavellischen Philosophie lässt sich Macht heute jedoch kaum mit Gewalt über eine längere Zeit erhalten. Vielmehr wird Menschen Macht von anderen kurzzeitiger und immer wieder neu verliehen.
Drei Arten sozialer Macht
Persönliche Macht über sich selbst geht mit Authentizität und einem festem Stand ins sich einher. Ohne egozentrisch in sich selbst gefangen zu sein. Zur Lebenskunst ist diese innere Macht einzig entscheidend. Soziale Macht meint, Einfluss auf das Verhalten anderer auszuüben. In der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) werden zur Betrachtung des sozialen Wandels drei Arten sozialer Macht in sozialen Systemen unterschieden: [4]
- gegenseitig Bedürfnisse achtende Systeme der „Macht mit Menschen“ (Macht mit Systeme)
- Systeme der Dominanz von „Macht über Menschen“ (Dominanz Systeme) und
- komplementär dazu „Macht unter Mächtigen“ als Verantwortungsabgabe
Macht mit Menschen
Eine Haltung von „Macht mit Menschen“ in der Beziehung auf Augenhöhe basiert auf dem Bewusstsein der eigenen Würde und ermöglicht beiden Seiten, ihre Bedürfnisse in Einvernehmen miteinander zu erfüllen. Wer innerlich frei und souverän ist, macht sich auch unter harten Bedingungen nicht zum Opfer. Auch wird er andere nicht unterdrücken oder ausbeuten, selbst wenn es leicht für ihn wäre. So bildet sich in der „Macht mit Menschen“ eine natürliche Hierarchie, in der jeder dort beiträgt, wo er den Bedürfnissen der anderen am besten dient. Wer durch sein Wirken dem Gemeinwohl dient, erntet soziale Anerkennung – nicht der machtbesessene, Gewalt ausübende Machiavellist und auch nicht der „ohnmächtige“ Mitläufer. So sind Macht-mit-Systeme der Nährboden von Selbstorganisation.
Macht über Menschen
Wer die machiavellische Dominanz der „Macht über Menschen“ lebt, sorgt v.a. durch Belohnung oder Bestrafung, Erpressung, Bedrohung und Beschämung anderer für sich. Der Preis dafür ist hoch: Zwar bekommt er (m/w) vordergründig, was er will, solange er Gewalt ausübt, doch verspielt er das Vertrauen und Wohlwollen der Mitmenschen, deren Bedürfnisse er nicht respektiert. Die Anderen könnten früher oder später die gewaltvolle Verletzung ihrer Bedürfnisse rächen. In einem Angstsystem funktioniert Dominanz gerade so lange, bis etwas kommt, vor dem der Mensch noch mehr Angst hat als vor seinem dominanten Gegenüber. Das ist dann die Stunde der Wahrheit: Der Führung wird in dem brenzligen Moment, in dem es gerade besonders darauf ankommen würde, nicht mehr gefolgt.
Soziale Systeme vergessen nicht einfach. Die Verknüpfung von Macht und Gewalt führt immer in einen Teufelskreis.[5] Verhalten und Kommunizieren des einen löst in einem zirkularen Prozess Verhalten und Kommunizieren des anderen aus. So droht bei jeder Gewalttätigkeit eine Folgereaktion, bis zumindest einer aktiv aus der Gewalteskalation aussteigt. Keltner beobachtete, dass Menschen sich v.a. dann in den Teufelskreis von Gewalt, Lüge und Manipulation verrennen, wenn ihre Macht über andere bereits im Schwinden ist und sie bereits bis zum Hals in Konflikte verstrickt sind. Wer Macht über andere sucht, ist oft von Angst dominiert und hat kaum Bewusstsein für seine innere Würde und die Würde anderer.
Macht unter Mächtigen
Das „ohnmächtige“ Opfer spielt dieses Spiel opportun mit oder weil sich keine Alternative bietet. Es ordnet sich unter und gibt die Verantwortung für sich, sein Wohlergehen und sein Tun ab, um nicht aus dem System zu fallen. Statt Bewusstsein für den Selbstwert zu haben, steckt es in der Ohnmacht fest. Wer sich aber auf Dauer als ohnmächtig erlebt, lebt auf einem hohen Angst- und Stressniveau. Offenes Denken und Reflexion sind beeinträchtigt. Selbstbewusstsein, Engagement und Gesundheit schwinden. Die Chance auf entspannte gelingende Beziehungen mit anderen sind ebenso gering wie beim dominanten Gegenpart. Soziale Bedürfnisse bleiben auf der Strecke.
Macht und Hierarchie
Das noch aus dem preußischen Militär stammende Prinzip der Hierarchie in Kliniken funktioniert nach dem machiavellischen Befehl und Gehorsam. In der heutigen Zeit bei zunehmend reflektierten und (selbst-) bewussten Menschen funktioniert dies immer weniger und am Ende gar nicht mehr. Und so müssen gerade auch Kliniken, die in ihrer Drei-Säulen-Struktur Arzt/ Pflege/ Verwaltung sehr hierarchiebetont aufgebaut sind, Überkommenes hinter sich lassen und sich kräftig weiterentwickeln, um die darin strukturell angelegten Konflikte zu überwinden. Vertikale Top Down Hierarchien sind durch horizontalere Muster der Koordination von Arbeitsteilung und Kooperation zu ersetzen. Es ist die Transformation von einem Dominanz- zu einem dialogischen Macht-mit-System zu vollziehen.
Ordnende Hierarchie im Sinn von Entscheidungszuständigkeit für übergreifende Fragestellungen braucht es trotzdem. Sonst gingen soziale Orientierung und Sicherheit im System verloren. Es wird sogar noch viel mehr Koordination nötig. Für diesen Wandel muss sich die Haltung der „Mächtigen“ weiterentwickeln. Weg von Status und Dominanz, hin dazu, Ermöglicher zu sein, „um mit Menschen Dinge zu bewirken“. Menschen gerade der jüngeren Generationen sind immer weniger bereit, sich Dominanz Systemen mit ihren Statusspielen unterzuordnen. Sie wollen mitgehalten und gesehen werden. Damit einher geht, dass Führungskräfte andere Rollen und Fähigkeiten sowie ein Vielfaches an Zeit benötigen, um Bedürfnisse zu integrieren.[6] Indem sie z.B. coachend der Entwicklung jedes Mitarbeiters dienen und als Brückenbauer, Ermöglicher und Kümmerer wirken.
Zentrale Aufgabe von postheroischer Führung wird es werden, Gruppen zu effektiven Teams zu formen. Überantwortung von Entscheidung und Selbstorganisation an Teams kehrt die klassische Machtpyramide um und verteilt Macht stärker dezentral auf Teams.[7]
Rollenwandel: Bedürfnisse sehen, professionelle Beziehungen gestalten
Es wird deutlich: Führen und Folgen sind in Macht-mit-Systemen neu zu denken, um der neuen Arbeitswelt gerecht zu werden. Ein Umdenken weg von Dominanz, Status, Härte, kurzfristigem Profit hin zu den Axiomen einer neuen Zeit ist nötig. Hin zu Verbundenheit durch Teams und Netzwerke, in denen Wertschätzung, Respekt der Bedürfnisse und Partizipation auch unter schlechten Bedingungen zu Leistung motiviert. Dabei geht es um Sinn und Werte, um Kultur. Nachhaltig kann nur sein, was Geben und Nehmen in vernünftigen Ausgleich bringt. Mitarbeitende sind auf die Förderung und Forderung angewiesen, Führungskräfte umgekehrt auf die positive Resonanz und die Wirksamkeit ihrer Mitarbeitenden. Beide Seiten dürfen sich in ihren Rollen gegenseitig wahrnehmen und sich darin Freiheit lassen, ohne die gegenseitigen Bedürfnisse bis hin zur ganzen Organisation aus dem Blick zu verlieren.
Wenn sich Leistung und Erfolg einstellen, entsteht ein Teamspirit, der Menschen an sich bindet.[8] Dass Teams funktionieren und Mehrwert stiften ist jedoch nicht selbstverständlich. Gerade wenn sich zunehmend selbstbewusste Individuen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten ergänzen sollen, besteht durch das Aufeinanderprallen der Diveristät latent die Gefahr von Konflikten. Wenn das Ganze mehr leisten soll als die Summe seiner Teile, dann ist das zu koordinieren. Dann braucht es Führungskräfte, die Bedürfnisse zum Ausgleich bringen und einen gemeinsamen Fluss herstellen. Führung mutet da ein wenig wie Hausfrauenarbeit an: [9] Wo sie nicht gemacht wird und Teams nicht funktionieren, wird auf sie geschimpft. Wo sie aber stetig einen guten Job macht, ohne sich zu inszenieren, da scheint sie niemand zu bemerken… [10]
Netzwerken und Selbstorganisation Raum geben
Macht-mit-Systeme fordern sozial und emotional intelligente Führungskräfte, denen Menschen aus freien Stücken folgen. Nur so lässt sich das Potenzial der Vielen ausschöpfen: Wer andere (nicht de-) motiviert, konstruktives Feedback gibt, Verantwortung und Selbstbestimmung überträgt, wer Mitarbeitende nach ihrer Meinung fragt, um Unterstützung bittet und professionelle Beziehungen aufbaut, erntet Engagement für die Aufgaben und Ziele. Der Weg weg von alten Systemen der Dominanz erfordert eine Führung, die dem einzelnen Freiraum lässt und ihn als soziales Wesen mit eigenen Bedürfnissen und intrinsischem Willen zur Leistung anerkennt. Weniger Befehle oder Anordnungen, weniger Regeln, Vorschriften, Kontrolle. Dafür mehr Vorschussvertrauen und Spielräume zur Entscheidung. Aber auch dezidiert enge Führung von denen, die das Vertrauen missbrauchen, um sie zurück ins Team zu holen.
Immer wieder herauszutreten und auf das Tun und Miteinander zu blicken, erhält das Team lebendig und intakt. Gerade da Zeit knapp ist, gehört dazu, sich bewusst Zeit füreinander – zum Fragen und Zuhören – zu nehmen. Jeden Tag neu das beste Vorbild für ein Haltung von „Macht mit“ zu sein. Macht auszuüben, um seinen Beitrag zu leisten, und Macht zu überantworten, wo andere ihren Beitrag leisten. Wir sind in einem epochalen Wandel, der die Arbeitswelt fundamental neu denkt. Dazu gehört es, Zusammenarbeit in Bereichen übergreifenden Teams und Netzwerken zu stärken und Inseldenken in Berufsgruppen und „Abteilungen“ abzubauen. Die neue Arbeitswelt – New Work in Abgrenzung zur kontrolldominierten Old Work des letzten Jahrhunderts – verspricht sich davon viel.
New Work
Faktisch experimentieren Unternehmen mit verschiedenen Spielarten einer neuen Arbeitswelt, deren gemeinsamer Weg häufig ist
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Abbau von Hierarchie, statischen Organisationsstrukturen, Bürokratie
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partizipative Arbeitsweisen, v.a. durch agile Organisation, Selbstorganisation und Dezentralisieren von Entscheidungen
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Zeitliche und räumliche Flexibilisierung von Arbeit mit einer stärker ergebnis- statt zeitorientierten Bewertung von Leistung
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durchdachte Prozesse, aber wenig kleinteilige Vorschriften
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hoher Fokus auf den Sinn der Arbeit
Dieser Weg erhöht Komplexität und braucht Entscheiden und Handeln frei von Eigeninteressen, ausgerichtet an einem gemeinsamen Sinn. Er braucht redliche Charaktere gerade auch an der Spitze der Hierarchie, die andere Menschen in Wort und Tat unterstützen, statt durch „divide et impera“ [11] zu regieren. Ein solches Für- und Miteinander ist es gerade, das sich die neue Generation wünscht, die ihre Motivation mehr aus ihrer Entwicklung als aus alten Insignien der Macht wie Geld, Titel und Status zieht.
Blinden Flecken an der Spitze der Organisation begegnen
Wie aber ist damit umgehen, wenn Führungskräfte im Unternehmen, noch nicht so reflektiert sind, Ihren Umgang mit Macht immer wieder selbstkritisch zu überprüfen? Wie damit umgehen, wenn Führung alter Prägung sich nicht in ein Macht-mit-System eingliedert? Es ist längst zu sehen, dass viele Menschen in Zeiten des Arbeitnehmermarktes ihre Freiheit nutzen und dann mit den Füßen reagieren. Es bleiben die Opportunisten, die sich persönliche Vorteile versprechen lassen und dafür die Dinge hinnehmen. Der Macht-mit-Gedanke ist längst nicht selbstverständlich. Die beste Option gegen die alten Machiavellisten in Unternehmen ist es, am Selbstbewusstsein und Funktionieren von Teams zu arbeiten. Macht ist ein zweiseitiges Resonanzphänomen. Es sind am Ende immer Kollektive, die in Systemen soziale Macht verleihen oder entziehen.
Ein Bonmot sagt: Mitarbeitende kommen wegen der Vision und dem Sinn, sie bleiben wegen des Teams und sie gehen wegen des Chefs… Team- und Organisationsentwicklung in Macht-mit-Systemen muss nicht mehr nur von oben nach unten gedacht werden. Vertrauen ist die Beziehungsentscheidung freier Menschen. Am Ende Teams in freien Systemen selbst, wem sie folgen. Führen und Folgen ist in Macht-mit-Systemen ein zweiseitiges Beziehungsgeschehen. Die klassischen Ansätze der Teamentwicklung ergänzen sich hier gut mit der systemischen Werkzeugkiste. Führung wird immer mehr zur Kunst der Gestaltung professioneller Beziehungen.
Literatur
[1] Vgl. Dacher Keltner (2016): Das Macht Paradox. Wie wir Einfluss gewinnen – oder verlieren, Campus Verlag.
[2] Vgl. Marshall B. Rosenberg (2012): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Junfermann, Paderborn, 10. Auflage.
[3] Ein System ist in erster Linie ein Geflecht aus Beziehungen und Kommunikationen – als Vollzug von Beziehung – mit einer selbst gebildeten gemeinsamen Sprache. Sprache hat symbolischen Charakter zur Wahrnehmung und Verständigung zwischen den Menschen. Dabei helfen Narrative. Gemeinsame Erlebnisse führen zu kollektiver Erinnerung und schaffen so Verbindung, ein “Wir”-Erleben.
[4] Vgl. Larsson, Liv (2013): 42 Schlüsselunterscheidungen in der GFK: Für ein tieferes Verständnis der Gewaltfreien Kommunikation, Junfermann Verlag, S. 84.
[5] Gewalt wird dabei physisch oder psychisch als Verletzung der Seele durch Beleidigung, Ausgrenzung etc. erfahren. Sie kann nicht nur durch Tun, sondern auch durch Gedanken und Worte – alleine durch Missachten von fremden oder eigenen Bedürfnissen – ausgeübt werden, bewusst oder unbewusst.
[6] Den Einfluss gesundheitsgerechter Führung als Bestandteil des Betrieblichen Gesundheitsmanagements sieht und fördert auch der Gesetzgeber explizit. Siehe Leitfaden Prävention, Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V vom GKV-Spitzenverband.
[7] Vgl. Vortrag von Elke Eberts auf dem Deutschen Pflegekongress im Rahmen des Hauptstadtkongresses 2018 “Grundlagen hervorragender Teamleistungen legen”. Wird in Kürze als CNE-Lerneinheit vertieft.
[8] Empathische Führung sucht einen Ausgleich der Bedürfnisse im System. Vgl. Eberts, Elke | Ruhl, Stefan (2019): Empathische Führung. Wie positive Resonanz und Personalbindung entstehen, in: Journal für Ästhetische Chirurgie, 11/2019, Vol 12, S. 191-196, Springer Nature.
[9] Vgl. https://krankenhausberater.de/impuls/news/alles-in-ordnung-von-hausfrauen-und-kuenstlern/
[10] Die hinter der “Hausfrauenarbeit” stehenden Aufgaben wirksamer Führung lässt sich mit folgenden Punkten umschreiben (angelehnt an: Malik, Fredmund (2006): Führen, Leisten, Leben: Wirksames Management für eine neue Welt, Campus Verlag):
- Für Ziele und Ergebnisse sorgen,
- Arbeit von Menschen in Systemen organisieren,
- Entscheidungen und Transparenz herbeiführen,
- Verbindlichkeit und Umsetzung sichern,
- Menschen entwickeln, fördern, stärken.
[11] “Divide et impera” (lateinisch für “teile und herrsche”) ist eine Redewendung, die empfiehlt, eine gegnerische Gruppe in Untergruppen mit einander widerstrebenden Interessen aufzuspalten. Dadurch soll erreicht werden, dass sie sich gegeneinander wenden, statt sich dem Herrscher vereint entgegen zu stellen.