Die biblische Erzählung vom barmherzigen Samariter hat die Psychologen John M. Darley und C. Daniel Batson der Princeton University vor über 50 Jahren zu ihrem legendären Samariter Experiment (auch bekannt als Jericho Experiment) im Dezember 1970 inspiriert.[1]
Der barmherzige Samariter
Kurzform der auch im Original verdichtet erzählten Lukas Perikope (Lk 10,25-37)
Ein Mann wird auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho überfallen und liegt schwer verwundet am Straßenrand. Drei Männer kommen nacheinander vorbei: ein Priester, ein Levit und ein Samariter. Die ersten beiden sehen den Verletzten, gehen aber weiter. Die knappe, unausgeschmückte Erzählung vertieft schier die Hetze und Eile der vorüberziehenden Gelehrten. Im Kontrast dazu lässt der Samariter sein Herz vom Mitgefühl mit dem Überfallenen anrühren. Er hat keine Sorge, sich am Blut des Verletzten zu verunreinigen, sondern salbt dessen Wunden, verbindet sie und bringt ihn in eine Herberge. Dort pflegt er ihn noch den ganzen Tag und gibt dem Herbergsvater am nächsten Tag zwei Silbergroschen, die zwei mittleren Tagesgehältern entsprechen, damit der den Mann weiter pflegt. Dann erst reist er weiter, nicht ohne dem Wirt zu versichern, ihn zu bezahlen, wenn er wiederkommt, sollten die Mittel zur Pflege nicht ausreichen.
Der Samariter leistet nach allen Regeln der antiken ärztlichen Kunst weit über die Erste Hilfe hinaus Vorsorge, damit der Verletzte nachhaltig gesundet – den sprichwörtlich gewordenen Samariterdienst.
Hintergründe
Über den Verletzten ist nur zu erfahren, dass er auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho von Räubern überfallen, ausgezogen, geschlagen und schließlich fast tot am Weg zurückgelassen wurde. Der Weg von Jerusalem nach Jericho hinunter folgt einer steil und steinig sich abwärts windenden Straße durch die karge, zerklüftete judäische Wüste. Jerusalem liegt gut 750 m über dem Meeresspiegel, Jericho nordöstlich ca. 20 km Luftlinie entfernt, 250 m unter dem Meeresspiegel. Jericho ist nicht nur die älteste befestigte, sondern auch durch die Lage im Jordangraben die am tiefsten gelegene Stadt der Welt. Der Weg überwindet also auf kurzer Strecke einer antiken Tagesreise mehr als 1.000 Höhenmeter. Die Strecke war beschwerlich und für Überfälle prädestiniert und dürfte alleine Reisenden nicht zuletzt dadurch unter Stress in der Sorge um sich selbst gesetzt haben.
Priester und Levit hatten wohl nach der Kultpraxis ihren Dienst im Jerusalemer Tempel beendet, den sie zweimal im Jahr für eine Woche versehen mussten, und befanden sich auf dem Heimweg. Das Gebot der Nächstenliebe war ihnen als Gelehrte der Tora präsent. Zugleich hatten sich Kultbeamte von Verstorbenen fern zu halten, um ihre Kultfähigkeit nicht zu beschädigen und sich nicht umständlichen Reinigungsritualen unterziehen zu müssen. Und doch greift es sicher zu kurz, die beiden hohen Tempeldiener als scheinheilig und mit fehlender Herzensbildung zu bewerten, als wollten sie sich nur Hände und Gewand nicht schmutzig machen. Der Samariter, der bei den Jerusalemer Juden als „Ungläubiger“ galt, war im Gegensatz zu den prominenten Personen der Öffentlichkeit freier von solchen normativen Verhaltensregeln. Und wohl auch weniger in Eile, um spontan reagieren zu können.
Akt der Barmherzigkeit
Hilfeleistung ist ein ethischer Akt der Barmherigkeit. Wenn Menschen für andere keine oder nur unzureichende Hilfe leisten, dann beurteilen wir sie schnell als herzlos oder unmoralisch. Zum Nächsten für einen Notleidenden zu werden und sich zum Handeln anrühren zu lassen, braucht moralische Reife und die situative Entscheidung der Menschlichkeit.
Barmherzigkeit gegenüber einem Menschen in Not bedingt
- der Not des anderen achtsam im Augenblick gewahr zu werden.
- mit seinem Herzen verbunden sein und mitzufühlen. Bildhaft etymologisch bedeutet Barmherzigkeit, ein mitfühlendes Herz zu haben bzw. das Herz am rechten Fleck zu tragen. Denn das Herz steht für das Zentrum der Gefühle, v.a. des Mitgefühls, der Güte und Liebe.
- aktive Bereitschaft, dem zu helfen, der Hilfe bedarf (insbesondere auch wenn er Vergebung oder Versöhnung braucht). Barmherzigkeit geschieht im Tun.
Nichts braucht ein Verletzter in der Situation mehr. Und nichts berührt ihn mehr als die Erfahrung von Barmherzigkeit. Es ist die Erfahrung dem lebendigen Gott direkt im anderen Menschen zu begegnen, eine Erfahrung echter Menschlichkeit, die das Herz augenblicklich öffnet. So steckt eine offene Herzenshaltung an und schafft – als Akt aktiver Gewaltfreiheit – Frieden auch unter Feinden.
Doch eine offene Herzenshaltung alleine muss nicht hinreichend für das situative Verhalten sein und dementsprechend nicht in Barmherzigkeit münden. Gerade unter Stress und Eile verlieren wir allzu leicht unsere Achtsamkeit für die Bedürfnisse unseres Umfeldes aus dem Blick.
Das Samariter Experiment
Die beiden Psychologen John M. Darley und C. Daniel Batson hat dies in ihrer berühmten Studie zur Frage inspiriert, wie sehr das Verhalten durch den situativen Kontext geprägt wird. Dafür luden sie die Theologie Studenten des Priesterseminars der Princeton Universität ein, einen Test absolvieren. 40 gültige Teilnahmen konnten sie auswerten. Den Probanden wurde erzählt, sie seien zu einer Befragung über religiöse Ausbildung und Berufung eingeladen. Zunächst wurde sie zu ihrer Religiosität befragt. Dann wurde eine Hälfte der Studierenden gebeten, einen 3-5 Minuten Vortrag über aktuelle Jobperspektiven für Theologen zu halten. Die andere Hälfte sollte kurz über die Parabel vom barmherzigen Samariter sprechen. Jeder sollte dazu in ein entfernt liegendes Büro auf dem Campus gehen.
Die Probanden wurden unterschiedlich stark unter Zeitdruck gesetzt:
- Den Ersten erzählte man: „Oh, Sie sind spät dran. Sie werden in ein paar Minuten erwartet. Am besten Sie beeilen sich jetzt…“
- Den Zweiten sagten die Forscher: „Der Assistent wartet nun auf Sie. Gehen Sie bitte direkt in das Büro…“
- Den Dritten wurde gesagt: „Wir sind schneller als erwartet fertig. Sie können sich ja schon einmal auf den Weg zum Büro machen und dort noch kurz warten…“
Der Weg zum Büro war präpariert. Dort lag ein schlecht gekleideter Mann am Weg, lädiert, hustend, die Augen geschlossen. Jemand, der Hilfe benötigen könnte, vielleicht betrunken und potenziell gefährlich war.
Auswertung
Das Verhalten wurde auf einer Skala von 0 (Bedürftiger wird nicht wahrgenommen), über 1 (Bedürftiger wird wahrgenommen, aber es wird keine Hilfe angeboten) bis 5 (Bedürftiger wird in andere Hände übergeben bevor der Proband weiterzieht) dokumentiert. Von den 40 Theologie Studenten hielten nur 16 Probanden (40%) an, um den Mann zu fragen, ob er Hilfe braucht (Skalenwerte 2-5). Einige stiegen jedoch auch über den Mann hinweg und ärgerten sich, dass er ihnen im Weg lag. Nach Ankunft im anderen Büro und nach der Aufnahme ihrer Rede wurden den Probanden Kontrollfragen gestellt, ob sie den Hilfebedürftigen auf dem Weg wahrgenommen hätten. Das Experiment endete dann mit einem Debriefing, in dem die Teilnehmer über den wahren Hintergrund der Studie aufgeklärt und das Experiment gemeinsam reflektiert wurden.
Ergebnisse
Es zeigte sich, dass die durch das Vorgespräch und die erteilte Aufgabe evozierten Gedanken Einfluss auf das Verhalten der Teilnehmer hatten, wenn auch keinen statistisch signifikanten: Von denen, die sich mit
- der Jobfrage beschäftigten, boten 29% Hilfe an.
- dem Samariter Gleichnis beschäftigten, boten 53% Hilfe an.
Größeren, statistisch signifikanten Einfluss auf das Verhalten – und auf das Maß der Hilfsbereitschaft – hatte jedoch der zuvor aufgebaute Stress und Zeitdruck: So halfen von den
- bereits Verspäteten nur 10%.
- Mittel-Eiligen 45%.
- zeitlich Entspannten dagegen 63%.
Die Beobachtungen deckten sich mit den Rückmeldungen im Anschluss. Auf die Frage, wieso sie dem Menschen nicht geholfen hätten, gaben viele an, dass sie ihn zwar gesehen, aber gar nicht darüber nachgedacht hätten, ob dieser Hilfe brauchen könnte. Sie waren wegen des Zeitdruck und der Aufgabe so in Gedanken, dass sie nicht präsent waren. Sie hatten darum nicht wahrgenommen, dass eine moralische Entscheidung zu treffen war. Stress und Eile waren alleine durch die Leiter des Experimentes erzeugt, die den Probanden scheinbar irgendwann irgendwo für etwas benötigten. Diesen Spielregeln unterwarfen sich die Probanden. Unterlassene Hilfeleistung bei offensichtlicher Not ist aber durch keine noch so große Eile gerechtfertigt.
Fazit: Trenne Person von Verhalten!
Die persönliche religiöse Disposition des Probanden wies keine Korrelation dazu auf, ob Hilfe angeboten wurde, sondern beeinflusste bei den Hilfsbereiten die Art und Weise des Handelns.[2] So ist fehlende Zuwendung stärker auf das situative Setting an Zeitdruck und Stress zurückzuführen als auf die Grundhaltung des Probanden. So lehrt uns die Studie, dass
- die Umstände massiven Einfluss auf Verhalten ausüben und Personen nicht nach ihrem situativen (ggf. verwerflichen) Verhalten beurteilt werden sollten.
- sich achtsames Verhalten durch Erzählungen prägen lässt und es so auf die Narrative einer Gesellschaft ankommt, welcher Geist des Miteinanders in ihr herrscht.
Übertragung
Jeder Mensch ist irgendwann einmal der Hilfsbedürftige aus der Parabel und braucht dann jemanden, der für ihn sorgt (und vielleicht auch zahlt). Von medizinischem Personal – gerade in Notfallbereichen – vertraut dieser in seiner Not auf soziale Zuwendung [3]. Doch dieses ist häufig akuten Stressoren ausgesetzt. Etwa die Konfrontation mit Leid, Gewalt, Tod, fehlende Wertschätzung, Störung des Tag/ Nacht-Rhythmus durch die Schichtarbeit.[4] Messbare körperliche Reaktionen – z.B. durch EKG Aufzeichnungen oder Bestimmungen von Stresshormonen und Immunparametern – und empfundenes Stressempfinden können dabei auseinander fallen, was gerne positiv durch Resilienz und Widerstandskraft erklärt wird. Langfristig schafft Desensibilisieren gegen körperlichem Stress und seinen Auswirkungen auf das Verhalten eine Daueranspannung und fordert unstrittig ihren Preis.
Was das Samariter Experiment in Bezug auf die stetige Verdichtung der Leistung für das medizinische Personal im Krankenhaus in puncto Achtsamkeit und Mitmenschlichkeit bedeutet, ist leicht ausrechnen. Hier besteht gesellschaftlich struktureller Handlungsbedarf. Und umgekehrt gibt es auch im Gesundheitswesen Menschen, die selbst in entspannten Momenten die Bedürftigkeit in ihrem Umfeld nicht wahrnehmen (können), denen es situativ an offenem Herzen oder an der Kraft für den Beruf fehlt. An beidem ist, will man eine achtsame Gesellschaft des Füreinander gestalten, durch Sensibilisierung zu arbeiten. Das Gesundheitswesen wären ein guten Anfang.