Wie funktionieren die kleinen Anschubser, die Nudges, im System? Wie sprechen sie intrinsische Motivatoren kurzfristig an? Und was können wir von Ulrike Reinhard für den Kulturwandel lernen?
Die Idee der Nudges – oder: die Fliege im Männer-Klo
Nudges (engl. „Anschubser“) sind eine moderne Methode, die Gesellschaft zu verändern und Politik zu machen.[1] Nicht mit Appellen, Steueranreizen oder Verboten. Sondern eher mit Psycho-Methoden, die auf unterbewusste Verhaltensmuster zielen. Nudges sind kleine Anschubser im System. Sie erzielen mit einem starken Wozu breite Wirkung. Dahinter steht die Erfahrung, mit winzigen Änderungen der täglichen Gewohnheiten großen Wandel in Haltung und Verhalten erreichen zu können. Sie setzen an menschlichen Bedürfnissen an, an emotionalen Triggern und intrinsischen Motivatoren. Statt mit Argumenten, Appellen, Verboten usw. nur an den Verstand zu appellieren oder auf Zwang zu setzen. Mit neuen Mustern wollen sie dauerhaft verändern und alte Muster überschreiben.
Im Prinzip werden günstige Bedingungen und Anreize gestaltet, die kurzfristige Bedürfnisse erfüllen (Freude, Spiel, Spaß, Neugier, soziale Integration, Bequemlichkeit etc.). So bewirken Nudges selbstorganisiert Veränderungen in komplexen Systemen. Ikone der Nudges Bewegung ist die Fliege im Männerpissoir: 1999 kam ein Manager am Flughafen Amsterdam auf die Idee, in den Urinalen der Herren-WCs eine Fliege über dem Abfluss abzubilden. Das sollte den Mann zum Zielschießen animieren. Die Verschmutzung der Böden sei so um 80 Prozent gesunken, berichten Cass Sunstein und Richard Thaler in ihrem Buch Nudge (2010). Wenn auch übertrieben, so ist die Anekdote mit der Fliege doch eindrücklich.
Zahlreiche Nudges haben sich mittlerweile bewährt, z.B.: [2]
- Am Flughafen Kopenhagen wurden Rauchverbote entfernt und Zonen ausgewiesen, in denen Rauchen erlaubt ist. Die Zahl der verstreuten Kippen in den Eingängen sank unmittelbar um 50 Prozent. Offensichtlich mag das menschliche Wesen Gebote lieber als Verbote.
- In den USA verschickte ein Energieversorger an 40.000 Haushalte eine monatliche Energiebilanz. Die Bilanz wies Stromverbrauch, ein Vergleich zu effizienten Nachbarn, Energiespartipps und Smileys für sparsame Kunden aus. Der Stromverbrauch sank im Jahr des Testes um zwei Prozent. Nach Sunstein hatte das einen größeren Effekt als höhere Preise.
- In Großbritannien ist das Behavioural Insights Team der britischen Regierung (Nudge Unit) seit 2010 von 8 auf 40 Mitarbeiter gewachsen. Es veranlasste z.B., dass Steuermahnungen mit einen Hinweis ergänzt wurde: Neun von zehn Briten zahlen ihre Steuern pünktlich. In Ihrer Nachbarschaft haben die meisten schon bezahlt. Drei Monate später hatten 83 Prozent der Empfänger die Steuern gezahlt. In der Vergleichsgruppe waren es nur 68 Prozent.
- In einem weiteren Experiment sollten britische Hausbesitzer motiviert werden, ihr Haus energetisch zu sanieren. Um möglichst niederschwellig, breit und kostengünstig zu wirken, wurde gezielt ein Förderprogramm zur Dachdämmung aufgesetzt. Trotz Subventionen machten zunächst nur wenige mit. Die Forscher standen vor einem Rätsel – bis sie feststellten, dass die Bürger davor zurückschreckten, ihren Dachboden für die Handwerker auszuräumen. Als das Angebot zur Hausdämmung mit einer Entrümpelung verbunden wurde, verdreifachte sich die Nachfrage. Mit kleinem Budget wurde eine 25% Verbesserung der Dämmwerte erreicht.
Beliebtes Werkzeug im Nudging sind außerdem auch Voreinstellungen:
- Die Rutgers University stellte z.B. alle Drucker auf beidseitigen Druck um. So verbrauchte sie 55 Millionen Blatt weniger Papier in drei Jahren.
- In Österreich liege die Rate der Organspender bei fast 100 Prozent. Jeder ist ein potenzieller Organspender bis er aktiv widersprochen hat.
- In Australien bestand das Problem, dass Autofahrer ihre leeren Dosen achtlos aus dem Fenster auf die Straßen warfen. Entlang der Highways häufte sich der Müll. Dann stellten Verhaltensforscher in der Nähe von Ortschaften Tore auf. Nun hoben sich die Autofahrer ihre Dosen bis zum nächsten Zielwerfen auf. Die Stadtreinigung brauchte nur noch dorthin zu fahren und alles einzusammeln.
Nudges für den Kulturwandel nutzen
Die Nudging Politik nutzt menschliche Muster im Verhalten ähnlich wie das Marketing. Doch im Gegensatz zum Marketing muss sie nicht manipulativ im verborgenen arbeiten. Da sie langfristig Sinnenhaftes bewirken will, ist es ihr eher noch förderlich, die Absichten transparent zu machen. Obwohl der Mensch Nachhaltiges will, ist er oft bequem in seiner Komfortzone und schätzt den kurzfristigen Nutzen höher als den langfristigen. Kognitive Dissonanz verdrängt das Gehirn dann einfach. Um den inneren Schweinehund zu überwinden, kann die Motivation der Anschubser den entscheidenden Unterschied machen. Nudging wirkt fast immer besser als Druck und Regeln, die erst einmal den Widerstand auf die Bühne holen. Das lässt sich für den Wandel in jedem sozialen System nutzen.
Und ein Weiteres lässt sich von den Nudges Forschern abschauen: Sie testen ihre Ideen gerne mit einer zufällig ausgewählten Gruppe, die gestupst wird, gegen eine Kontrollgruppe. Nicht in Laboren, sondern direkt im lebenden System. Auch unsere systematische Arbeitsweise in Kliniken ist so seit über 10 Jahren durch das Setzen von produktiven Impulsen geprägt und die Krankenhausberater Seite haben wir aufgebaut, um eine breite Impuls-Seite für unsere Arbeit zu teilen.
Der Skatepark in Janwaar
Ulrike Reinhard aus Heidelberg – die lange mit dem Organisationspsychologen Peter Kruse zusammen gearbeitet hat – liefert ein eindrückliches Beispiel. Sie baute 2014 einen Skatepark im Zentrum des indischen Dorfs Janwaar. Mitten in einer patriarchalischen Kultur, dem Kastensystem und der Armut, mit einem Dollar am Tag zu leben. Dort wollte sie Bildung und Gleichwertigkeit aller Menschen fördern. Sie setzte den Skatepark und den Verleih der Boards auf, um auf die Dorfkultur einzuwirken. Dazu stellte sie nur zwei Regeln auf:
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No school, no skateboarding.
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Girls first. Ist kein Skateboard frei, muss der Junge der vom Mädchen gebeten wird, seines weitergeben.
Die Wirkung auf die Kultur nach 7-8 Jahren ist unverkennbar: 30% mehr Kinder besuchten den Unterricht. Mädchen haben heute einen anderen Stellenwert – nicht nur unter Kindern. Jugendliche gehen beruflich neue Wege. Frauen haben sich emanzipiert. Die Grenzen der beiden Kasten im Dorf haben sich aufgelöst. Der Skatepark ist deutlich erweitert worden und wird heute in Eigenregie nach basisdemokratischen Regeln betrieben. Er dient anderen Dörfern als Vorbild, die nach Janwaar kommen und sich informieren. Das bringt zusätzlich Gelder ins Dorf.
Anders als in der klassischen Entwicklungshilfe hat Reinhard lediglich einen Rahmen mit einem intensiv wirkenden Nudge geboten. Sie hat einen Impuls gesetzt. Und sie hat sich dann überraschen lassen was passiert. Die bestehende Kultur hat sich mit dem Musterbruch auseinander gesetzt. So waren eigenes organisches Entwickeln und Selbstorganisation möglich. Damit hat sie sich schon nach kurzer Zeit überflüssig gemacht und eine andere Kultur hinterlassen, als sie 2014 aufgefunden hat. Das folgende Video aus 2022 gibt tolle Impressionen dazu:
Quellen
[1] Cass R. Sunstein | Richard H. Thaler (2010): Nudge, Wie man kluge Entscheidungen anstößt.
[2] Die Beispiel stammen von Cass R. Sunstein | Richard H. Thaler (2010): Nudge, Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Kaneman, Daniel (2012): Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler Verlag; 20. Auflage. Cuddy, Amy J. C.(2019): Ohne Worte alles sagen, Mit Körpersprache überzeugen – Der millionenfach geklickte TED Talk, S. 332-339.