Über die Kunst des Fragens wurden schon viele Bücher und Beiträge geschrieben. Und es ist ein immerwährendes Thema für uns: Es lässt sich schon ein Leben lang trainieren, andere durch Fragen so zu inspirieren, dass sie enger mit ihrer Lebenskraft in Berührung kommen. Wird in diesem Verständnis nicht Fragen zu einem Inbegriff der Weisheit selbst? Viktor Frankl meinte, dass es letzten Endes das Leben selbst sei, das dem Menschen Fragen stelle. Wie lässt sich diese Vitalenergie als Zuhörer aufgreifen?
Geistige Hebammenkunst in der Antike
Der griechische Philosoph Sokrates (469-399 v.Chr.) spricht metaphorisch von Hebammenkunst, wenn er eine Person durch Fragen zu einer Erkenntnis verhilft.[1] Indem er sie die Dinge selbst herauszufinden und neue Einsichten aus sich selbst heraus gebären lässt. Diese Hilfe auf dem Weg der Erkenntnis, die auf Gurus und Belehrung konsequent verzichtet, entwickelt Sokrates als Alternative zur konventionellen Vermittlung durch Weiterreichen und Einüben von Lehrstoff. Die Kunst, andere zu Einsicht zu verhelfen, besteht für ihn mithin im Fragen und nicht im Sagen wie es geht.
In Platons Dialog mit Theaitetos vergleicht Sokrates sein Vorgehen mit dem Beruf seiner Mutter, einer Hebamme. Er helfe Seelen bei der Geburt ihrer Einsichten wie die Hebamme Frauen bei der Geburt ihrer Kinder. Er gebäre selbst keine Weisheit, sondern stehe anderen beim Gebären ihrer Erkenntnisse bei. Nie belehre er seine Schüler, aber er ermögliche ihnen durch zielgenaue Fragen schnelle Fortschritte. Als geistiger Geburtshelfer erkennt er, ob überhaupt eine Schwangerschaft vorliegt, kann Wehen beschleunigen oder verzögern oder eine Abtreibung einleiten, wenn unstimmige Gedanken auf dem Wege sind. Und wer sich als (noch) nicht für die Hebammenkunst eignet, kann erst noch zu anderen Lehrern gehen.
Fragekunst im Zeitalter der Aufklärung
Das Leitmotiv der Aufklärung von 1720-1800 wird mit dem bekannten Zitat des Philosophen Immanuel Kant umrissen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Dahinter steckt der Appell, dass der Mensch seinen Verstand gebrauchen und sich dadurch zu einer mündigen Persönlichkeit entwickeln soll. Um als selbstbestimmtes Individuum Vorurteilen, Aberglaube und Willkürherrschaft zu trotzen. Kant empfahl für die Didaktik die dialogische Lehrart der Ethik, indem Lehrer und Schüler einander wechselseitig fragen und antworten. Der Lehrer leitet durch Fragen den Gedankengang des Schülers, indem er die Anlage zu gewissen Begriffen im Sinne der Hebammenkunst entwickelt. Durch die Gegenfragen des Schülers präzisiert der Lehrer die Fragetechnik.
Wesentlicher Unterschied zwischen der Fragekunst des platonischen Sokrates und der pädagogischen Mäeutik des 18./19. Jahrhunderts war, dass das beschämende Vorgehen des Sokrates ins Gegenteil verkehrt wurde. Sokrates ließ seine Partner im Dialog erst ihre Ansichten vortragen, um sie dann zu widerlegen. So zog er oft den Zorn der Beschämten auf sich und erreichte nicht immer den Perspektivwechsel durch Gegenargumentation. Die neuzeitlichen Pädagogen hingegen entlockten ihren Schülern Aussagen darüber, was sie für wahr hielten. Die Methode ist dann fruchtbar, wenn der Lernende in einem Feld bereits eine Grundkompetenz und Eigeninitiative mitbringt. Didaktisch geht es darum, den anderen in seinem Erlebnis- und Erfahrungshorizont abzuholen und durch Impulse und Fragen zu eigenen Erkenntnissen und Handeln zu fördern. Als Hilfe zur Selbsterkenntnis.
Erkenntnismomente zwischen Daguerre- und Aha-Moment
Um 1837 erfand Louis Daguerre die Fotografie. Wo zuvor Maler in endloser Fleißarbeit möglichst detailgetreu die Realität abbildeten, konnte das ein technischer Apparat plötzlich schneller und besser. Die Malerei erfand sich nun neu, entfesselt durch die Fotografie. Nun konnten Künstler ihre Gefühle, Ideen und Erfahrungen mit neuen Techniken darstellen. Die moderne Malerei entstand. So gesehen erlöste die Fotografie die Malerei von der Last, realistische Abbilder schaffen zu müssen. So ähnlich störte Sokrates bisheriges Denken und verschaffte dem Dialogpartner zunächst schmerzliche Daguerre-Momente, die im Überwinden jedoch zu neuen Durchbrüchen verhalfen.
Die Aufklärer verfolgten dagegen eher, Aha- (bzw. Heureka-) Momente zu erzeugen, in denen durch neue Verknüpfung von Wissen, neue Erkenntnis geboren wird.[2] Wo Momente der Erkenntnis erleuchten und Menschen aus ihren bisherigen Denkrahmen herausspringen, wird das häufig von einem befreienden Lachen begleitet.
Der Göttinger Philosoph Leonard Nelson (1882–1927) entwickelte an die Aufklärung anknüpfend Grundsätze philosophischer Erkenntnis, die er als sokratisches Gespräch zwischen einer Gruppe von Schülern und einem Gesprächsleiter bezeichnete. Dieser verfolge, Philosophieren zu lehren und Schüler zu Philosophen zu machen. Dabei hat der Gesprächsleiter nicht selbst zur Sache sprechen und sich eigener Urteile unbedingt zu entheben, damit die Lernenden frei zum eigenen Urteil gelangen könnten. Ob dies Erkenntnis nun aber eher einem Daguerre- oder einem Aha-Moment gleicht, ist dort einerlei. Wesentlich ist die Haltung.
Wo bleiben heute Zeit und Raum der Erkenntnis zur Persönlichkeitsentwicklung?
Dem Menschen wurde eine Begabung in die Wiege gelegt: die Reflexionsfähigkeit, über sich selbst und geistige Dinge nachdenken zu können. So gesehen ist der Mensch von Natur aus zum Fragen gemacht und leidenschaftlich lernbegierig. Haben wir diesem wesentlichen Punkt der Persönlichkeitsentwicklung vor lauter Rationalismus lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Wurde nicht viel mehr Wert darauf gelegt, Wissen zu reproduzieren und sich „richtige Antworten“ zu erarbeiten, als kreativ über inspirierende Fragen und neue Möglichkeiten zu sinnieren? Auch wenn wir die Angebote unseres freien Bildungssystem gerade in Deutschland als Kulturleistung nicht hoch genug schätzen können: Ist dem Volk der Philosophen, Dichter und Denker fast unmerklich die Tiefe der Reflexion abhanden gekommen?
Fragen sind Türöffner in den Dialog, inspirieren, auf Erkenntnissuche zu gehen, motivieren Interesse und Neugier. Und können zu neuem Denken und Kreativität einladen. Fragen öffnen neue Gedanken-Wege. Braucht unsere Gesellschaft zur Stärkung ihrer kollektiven Intelligenz heute nicht v.a. sozial und intellektuell kluge Persönlichkeiten? Solche, die – in Zeiten, in denen reproduktive Tätigkeiten durch Maschinen zuverlässiger als durch Menschen geschaffen werden können – ganzheitlich und selbstreflektiert denken? Muss unsere hohe Taktung dazu nicht bewusst immer wieder durch reflektorische Konversation unterbrochen werden, um neue Gedanken auf die Welt zu bringen? Wissen kann durch Technik und künstliche Intelligenz verwaltet werden, die Weisheit gelebten Lebens wird hingegen vom Menschen gebärt…
Die Kunst der dazu inspirierenden Fragen
Menschen darf es nicht mehr systematisch abgewöhnt werden, unbequeme Fragen zu stellen. Die Kunst der Frage besteht darin, Menschen zu ihrem Potenzial zu führen. Insofern geht es um nicht weniger als um das lebenslange Arbeiten an der Qualität unseres Fragens. Andere Fragen – wie z.B. die lösungsorientierten systematischen Fragen von Steve de Shazer oder die Fragen-Kollektionen von Funcke/ Rachow – führen zu anderen Antworten. Je größer die Werkzeugkiste an Fragen, umso flexibler wird man in der Anwendung der Hebammenkunst. Um dem, der danach fragt, situativ passend zum Nachdenken zu inspirieren. Inspirieren, sein eigenes gelebtes Leben weiter zu entfalten, um so ein Stück weiser zu werden.
Ob eine Frage wirkt, inspiriert und damit eine Qualität entfaltet – das hängt damit zusammen, ob sie Anschluss an die gerade in uns lebendigen Emotionen und Bedürfnisse findet. Dazu bedarf es beim Fragesteller in erster Linie seiner ganzen Präsenz und dem echten Interesse an der Lebenserfahrung des Gegenübers sowie einer sensiblen Offenheit für dessen situative Bedürfnisse. Das sind Fragen, die weder Aushorchen noch Belehren und auch keinen Druck zur Rechtfertigung erzeugen. Der Fragende wird u.U. durch die Tiefe der menschlichen Begegnung ungewollt auch selbst mit Impulsen für sein eigenes Leben beschenkt.
Fragen können zu neuen Optionen inspirieren:
- Sei es durch hypothetische Gedankenspiele oder Unterscheidungen: Verschlimmerung, Verbesserung, Ausnahme vom Problem, Einführung von Skalierung oder Zeitbezügen, …
- Oder durch Fragen, die tiefer den Sinn erkunden, Erklärungen und Glaubenssätze im System erforschen, Beziehungsgeschehen und zugeschriebene Bedeutungen (auch von abstrakte Begriffen) hinterfragen.
- (Vor-) Bewusste innere Gefühle können zudem durch Masken und Metaphern externalisiert werden und so zu neuem Erleben aus der emotionalen Distanz heraus inspirieren.
Wie Fragen inspirieren, eine neue Perspektive einzunehmen oder bestehende Vorannahmen zu hinterfragen, den Blick zu weiten oder enger zu fokussieren, bestimmt die Wirkung.
Offene W-Fragen öffnen den Geist. De verschiedenen Ws haben unterschiedliches Potenzial zur Stimulation. Die höchste philosophische Qualität beinhaltet immer das Wozu. Die Frage nach dem situativen Sinn und der Motivation. Deshalb steht sie bei Simon Sinek noch vor dem Was und Wie im Zentrum des Goldenen Kreises. Daran kann sich das Warum und Woher anschließen, das den Blick auch ins Verständnis der Vergangenheit richtet. Wobei hier das Erkunden der guten Gründe auch schnell einmal zur Rechtfertigung verführt. Die gute alte Servicehotline Frage „Was kann ich für Sie tun?“ versprüht dazwischen immer wieder besonderen Zauber, und verändert Denken oft unmittelbar.
Philosophie – Die Liebe zur Weisheit
Was die Kunst des Fragens durch ein personales Gegenüber bewirkt lässt sich durch das 9 Punkte Problem – analog zur Metapher des 18. Kamels – versinnbildlichen: 9 Punkte in drei Dreierreihen sollen mit 4 zusammenhängenden Linien verbunden werden. Innerhalb des Rahmens im System lässt sich die Lösung aber unmöglich finden. Die selbst auferlegte Bedingung, in diesem Denkrahmen zu bleiben, muss erst aufgegeben werden. Erst wenn die Linie durch einen gedachten weiteren Punkt außerhalb des Quadrats springt, lässt sich die Aufgabe leicht lösen. Das Springen aus dem Rahmen aber beschreibt den Weg zu neuer Erkenntnis der Welt…
Beginnt die Führung Ihre Mitarbeitenden durch Fragen zum Mitwirken einzuladen, hat sie ihre Aufgabe in komplexen und dynamischen Systemen verstanden. Gerade autonome Selbstdenker mit eigener Meinung und kritischer Reflexion im Sinne der gemeinsamen Sache haben das Potenzial, den Horizont eines ganzen Kollektives zu erweitern. Heute sind situativ differenzierte Antworten und laufender Dialog nötig. Wer mitwirkt, denkt über den Tag hinaus. Fragesteller stellen Weichen, die das Vorankommen unterstützen. Fragen öffnen Türen. Und offene Türen stellen Verbindungen zwischen Menschen her. Die Frage bleibt dann nicht ungehört, sondern inspiriert zum Antworten und sich zu involvieren.
[1] Sokrates selbst hat keine Schriften hinterlassen. Sein Schüler Platon hat in Form literarischer Dialoge die sokratische Methode an diversen Einzelfällen demonstriert. Die Mäeutik als Hebammenkunst Sokrates ist so im Wesentlichen durch Platon bekannt. Einiges deutet darauf hin, dass der in Platons Dialogen auftretende Sokrates historisch gut getroffen ist. Es ist aber möglich, dass die Bezeichnung als Hebammenkunst ein Einfall Platons war.
[2] Die Bezeichnung Heureka-Moment geht auf Archimedes von Syrakus (287-212 v.Chr.) zurück, der einer Anekdote zufolge in der Badewanne zum Archimedische Prinzip fand. Dieses besagt, dass der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium so groß ist wie die Gewichtskraft des von ihm verdrängten Mediums (mittlere Dichte). Nach dieser plötzlichen Erkenntnis sei er euphorisch aus dem Bade aufgesprungen und unbekleidet, laut und freudig „Heureka!“ („Ich hab’s gefunden“) rufend durch die Stadt gelaufen.