0621 | 44596656 info@ruhl-consulting.de

Ameisen im Teufelskreis: Austreten aus ungesunden Dynamiken

von Jan 31, 2023Impulsgeschichten

Haben Sie sich schon den Unterschied zwischen Schwarmintelligenz und kollektiver Intelligenz vor Augen geführt? Wenn nicht, dann lassen Sie sich von der Ameisenmühle inspirieren…

Am 15.11.2022 wurde zum ersten Mal die 8 Milliarden (8*10^9) Marke der Weltbevölkerung geknackt. Doch das ist im Vergleich fast nichts: 2022 hat ein Forscherteam um P. Schultheiss Daten von 465 Studien zu Bodenameisen und 24 Studien zu Ameisen auf Bäumen zusammengetragen und damit die Zahl der Ameisen auf der Welt geschätzt.[1] Demnach gibt es mindestens rund 19,8 Billiarden (19,8*10^15) Ameisen auf der Welt. Konservativ geschätzt.[2] Rund 15.700 Ameisenarten sind bekannt und beschrieben. Ihre wahre Vielfalt schätzen Biologen doppelt so hoch. Die sozial lebenden Ameisen sind wichtige Akteure in verschiedensten Ökosystemen: Sie beeinflussen die Böden durch den Verzehr von organischen Resten sowie das Buddeln und spielen eine wichtige Rolle auch für das Gedeihen anderer Organismen.

 

Die Schwarmintelligenz der Killerameisen [3]

Zu den gefürchtetsten Arten der Ameisen zählen die Killer- oder Treiberameisen (army ants). Eine tropische Familie von Wanderameisen, die ca. 200 Arten umfasst. Ein einziges Heer besteht aus Millionen von Ameisen. Es agiert wie ein einziger Super-Organismus, indem sich jedes Insekt strikt nach einer einfach bewährten Logik verhält. So entsteht der Eindruck einer höheren Schwarmintelligenz.

Die meisten Arten von Treiberameisen sind blind. Sie kommunizieren durch Duftstoffe (Pheromone) und orientieren sich alfaktorisch. Um das Heer zu führen, markieren voraus gehende Ameisen den Weg mit Duft. Die Richtungshinweiser nutzen die folgenden Tiere. So folgt eine Ameise blind der vor ihr marschierenden. Die Nachfolger verstärken die Duftmarken, sodass allmählich eine dicke Duftspur entsteht. Derart strukturiert geht das Heer systematisch auf Beutefang. So frisst es in kürzester Zeit mit den scharfen Mundwerkzeugen der vielen kleinen Insekten ein ganzes Gebiet leer von toten und lebendigen Kleingetier. Um dann mit seinem mobilen Nest langsam, aber radikal weiter seiner Wege zu ziehen. Eine gruselige Erscheinung sind diese Killerameisen.

Doch kann ihnen ihre Struktur auch zur Falle werden: Wenn nämlich eine Vorhut bei ihrem Marsch auf eine alte Spur trifft, die zu einem zurück liegenden Punkt führt. Dann entscheidet sie sich instinktiv falsch und beginnt das Heer im Kreis zu führen. Der Ameisenstaat folgt. So geraten die Ameisen in einen Teufelskreis. Oder, wie es die Wissenschaft nennt, in die Todesspirale, den Todesstrudel, die Ameisenmühle. Die Ameisen laufen und sind nicht in der Lage, den Kreis zu verlassen – obwohl sie eigene Gehirne haben. Sie laufen bis sie an Hunger, Durst und Erschöpfung sterben. Ihre Schwarm­intelligenz und Disziplin wird ihnen selbst zum Verhängnis. Gegen den Kreisprozess hat das System weder Sicherheiten noch Ausstiegsmechanismen.

 

Wenn die Lösung das Problem ist

Der Biologe William Beebe entdeckte 1921 eine Todesspirale von 365 Metern Umfang, für deren Umrundung eine Ameise ca. 2,5 Stunden brauchte. Auch Menschen können verstärkt in sozialen Systemen in ungesunde Kreisdynamiken geraten, in denen sie immer wieder gleiches Verhalten zeigen, ohne zu einer konstruktiven Lösung zu gelangen. Gerade, wenn sie nicht bereit sind, einmal situativ gebildete Ansichten wieder in Frage zu stellen und aufzugeben.[4] Gerade große menschliche Kollektive dürfen sich gezielt mit kritischen Diskursen wappnen, um weniger anfällig für Group Thinking zu werden, mit dem sie einem Irrglauben noch leichter zum Opfer fallen als einzelne Individuen. Stures Anhaften an einmal gebildeten Überzeugungen, blinde Gewohnheiten und blinder Gehorsam in der Herde sind gefährlich. Die Ameisenmühle kann ein Sinnbild dafür sein.

Der Menschen darf bewusst Nachdenken und seinen eigenen Verstand benutzen. Er hat anders als die Ameise die Option, das unbewusst ablaufende Reiz/ Reaktion Schema zu unterbrechen. Und ist nicht wie Sisyphus dazu verdammt, sich beim Scheitern immer wieder gleich zu verhalten ohne dem ewigen Kreislauf zu entkommen. Er kann sich auf eine höhere Ebene der Lernspirale bringen, seine Annahmen hinterfragen und aufgeben. Und zugleich braucht es neben dem autonomen Denken das klare Commitment zum Wir und im gezielten Austausch bewusst gemeinsam geteilter Konzept- und Werteräume. Gerade in großen Kollektiven, in denen es aufgrund der Größe nicht mehr ohne Weiteres möglich ist, Bedeutungsgebungen en Detail gemeinsam kommunikativ auszuhandeln.

 

Von der Schwarmintelligenz zur kollektiven Intelligenz in menschlichen Systemen

Schwarmintelligenz ist eine nicht minder zu schätzende Qualität sozialer Systeme (so wie etwa auch das Beispiel der Wildgänse zeigt). Doch nur auf Schwarmintelligenz in menschlichen Kollektiven zu setzen kann so – um vom Ende her zu denken – für das Ganze nicht zielführend sein. Kollektive Intelligenz als Kulturleistung fordert vielmehr, Dynamiken, die auf simplen Regelwerken, blindem Gehorsam und dem Ausschalten des eigenen kritischen Denkens beruhen, in fruchtbarere Bahnen zu lenken. Die Kulturbegabung des Menschen fordert geradezu den Dialog bzw. kommunikativen Austausch, um die Potenziale der kollektiven Intelligenz zu heben. So dass ein Austritt aus ungesunden Dynamiken und neue gemeinsame Lösungen geschaffen werden können. Dadurch sind miteinander Leistungen möglich, die ein Individuum für sich alleine nicht imstande ist zu erbringen.

 

[1] Vgl. Schultheiss, Patrick et al (2022): The abundance, biomass, and distribution of ants on Earth, Proceedings of the National Academy of Sciences, 119 (40), doi: 10.1073/pnas.2201550119.

[2] Für viele Habitate und Biome wie unterirdische Lebensräume gibt es nämlich kaum Daten. 61 Prozent dieser geschätzten Ameisen leben in nur zwei Biomen: den tropischen Regenwäldern und den tropischen Savanne.>

[3] Eine kurze Doku zu army ants findet sich bei YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=JsfiUR0ZzLw&t=112s

[4] Vgl. Watzlawick, Paul (1997): Wenn die Lösung das Problem ist, Audio-CD, Auditorium-Verlag.