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Zuhören wie Jeffrey Brown: Mord und Gewalt auf den Straßen von Boston

von Nov 26, 2022Impulsgeschichten

Präsenz, absichtsfrei für den anderen Dasein, Zuhören – das ist die Basis, auf der Vertrauen wachsen und gedeihen kann. Und nicht nur In einem gewalttätigen Setting bedeutet dies eine enorme Challenge, sich raus aus der eigenen Komfortzone in die unbekannte Welt des anderen hinein zu bewegen. Doch wer ausdauernd aufeinander zugeht, der wird vielleicht ein Wunder unserer Zeit erleben: Das Wunder, mitten aus dem eskalierten Konflikt heraus in eine Jahreszeit des Friedens zu treten…

Der schwarze Baptistenpfarrer Rev. Jeffrey Brown übernahm kurz nach seiner Ausbildung eine Gemeinde in Boston. Im Athen Amerikas wie Boston als eine der ältesten Großstädte der USA auch genannt wird.[1] In Bosten befinden sich die Harvard Universität und das MIT. Das pro Kopf Einkommen in der überwiegend katholischen Stadt liegt weit über dem Landesdurchschnitt. Die Arbeitslosenquote ist sehr niedrig. Doch 20 Prozent der Bewohner leben desintegriert in völliger Armut. In diesem Milieu haben sich – wie weltweit auch in anderen Großstädten – zahllose kriminelle Banden herausgebildet.

Wie andere Kleriker in den USA träumte Jeffrey v.a. davon, eine Megakirche und ggf. eine eigene TV-Sendung aufzubauen. Zu der Zeit nahmen die Bandenkriege und Morde in Boston massiv zu. 1990 waren 73 Jugendliche in Boston getötet worden. Von der Kanzel predigte Jeffrey Sonntag für Sonntag gegen die Gewalt. Doch die Gangmitglieder und Dealer seiner Gemeinde gingen nicht in die Kirche. Gewalt als Konfliktlösungsversuch lässt sich schlecht ohne die Betroffenen stoppen. Von außen, ohne sich auf die Welt des anderen einzulassen. Doch Jeffrey traf auf die Welt der Banden: bei Totenmessen und Beerdigungen der Kids. Dann schaute er in Gesichter junger Menschen, die schon einige Morde miterlebt hatten. Einige wirkten leer, andere maßlos wütend, auf Rache aus. Auf vieles hatte ihn die theologische Ausbildung vorbereitet, aber nicht darauf, damit umzugehen.

Seelsorge im Umfeld der Menschen

Eines Tages verblutete einige Meter vor Jeffreys Kirche ein Junge nach einem Raubmord. Seine Eltern baten Jeffrey, zu Hause eine Mahnwache zu halten. Es war gleich um die Ecke und doch waren dort nur Menschen, die er in der Kirche noch nie gesehen hatte. Junge Menschen, die kaum jünger waren als er selbst. Er hatte keine Agenda, nur ein paar Kerzen. Er fühlte sich unsicher. So betete er einfach nur Fürbitten mit ihnen und war da. Nach und nach kamen sie auf Jeffrey zu. Sie begannen ihm vom Toten zu erzählen und schüttelten ihm die Hand. Er hatte danach das tiefe Gefühl an diesem Tag fern seiner Kirche echten Pfarrdienst getan zu haben. Das Erlebnis wurde Jeffrey zu einem Wendepunkt im Leben.

Der Straßenausschuss

Mit den meisten Klerikern in Boston konnte er nicht darüber sprechen, was wegen der Bandenkriege und der Gewalt auf den Straßen seiner Gemeinde getan werden könnte. Wie er seine Ohnmacht überwinden und zu den Kids durchdringen könnte. Viel zu sehr waren die Pfarrer mit ihrer eigenen Welt in den Kirchenräumen beschäftigt. Von den 300 Klerikern in Boston fanden sich am Ende neben Jeffrey nur noch drei weitere, die sich auf den Weg machten, Kontakt und Verbindung zu suchen. Sie bildeten den so g. Straßenausschuss, der die Lösung draußen auf der Straße suchen wollte.

In einem der gewalttätigsten Viertel der Stadt gingen die vier auf die Straße zu den Menschen hin. Von 22-2 Uhr liefen sie dort umher und redeten mit den Jugendlichen. Das forderte Mut, die eigene Komfortzone zu verlassen, ungefragt und ungeschützt auf die Gangs zuzugehen. Aber sie hielten ausdauernd durch. Sie gingen jeden Abend auf die Jugendlichen zu – in deren Territorium, zu deren Zeit. Sie begegneten den Mitgliedern der Gangs freundlich und mit offenem Interesse an ihren Gedanken und Gefühlen. Das war wohl das letzte, womit dieses Umfeld gerechnet hatte.

Die Kunst, das Vertrauen zu gewinnen und der Mut zum Zuhören

Bei der Begegnung mit einem Fremden stellt sich sofort die Frage, ob ihm zu trauen ist. Um Vertrauen zu gewinnen, ist wichtig, für den anderen berechenbar zu sein, mit dem Gefühl, dass es der andere es gut mit mir meint.[2] So kam es für die Vier darauf an, regelmäßig verlässlich da zu sein und keinen eigenen Nutzen mit den Kontakten zu bezwecken. So wollten sie auf keinen Fall jemanden etwa belehren und bekehren. Der Mensch will autonom sein und nicht manipuliert werden. Mit der Zeit kamen sie durch aufrichtiges Zuhören in Verbindung. Doch einfacher getan als gesagt. Ihnen schlugen aggressive und angreifende Worte entgegen. Sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern reflektiert darüber zu stehen und offen und präsent zu bleiben, brauchte Besonnenheit. Und jemanden, dem es wahrhaftig wichtig ist, eine Tür zur Verbindung mit dem anderen zu finden.

In der Begegnung einander fremder Welten, ist jeder mit seiner eigenen Unsicherheit beschäftigt. Gerade in der eigenen Unsicherheit will man sich v.a. souverän und stark fühlen und so gesehen werden. Das Gegenüber jedoch reagiert auf jede Demonstration von Stärke empfindlich mit Rückzug, weil es darin weder Vertrauenswürdigkeit noch Wärme findet. Kein Rat für eine Welt, zu der ich keinen Zutritt habe, ist gefragt. Hier erst einmal in ganzer Präsenz und ohne Bewertung zuzuhören, fordert Mut. Den Mut, die Kontrolle abzugeben und einen offenen Freiraum zu schaffen. Und dann die Gelegenheit zu einem Durchbruch zu erkennen und am Schopfe ergreifen, wenn sie sich bietet.

Man selbst sein

Die Jugendlichen hatten ein starkes Gespür für jede Fassade und gespielte Sicherheit. Um wirklich glaubwürdig zu werden, musste Jeffrey sagen, was wahrhaftig ist. Jeffrey musste lernen, sich den Jugendlichen gegenüber in seinen Gefühlen und Bedürfnissen kohärent zu verhalten. Echt sein und nicht nur freundlich. Und so sein aufrichtiges Selbst, seine wahre – d.h. die von ihm selbst geglaubte – Geschichte zu zeigen. Sein Anliegen, dass es ihm wahrhaftig darum geht, zur Deeskalation beizutragen, und nicht um das heldenhafte eigene Ego. Das musste sich unter Beweis stellen. Dabei sich selbst immer wieder reflektieren, Signale setzen, glaubwürdig sein. Das ist Arbeit an der Vertrauensbildung und Begegnung mit sich selbst.

Jeffrey lernte von den Jugendlichen, wieviel wichtiger zuhören ist, statt mit Worten zu predigen. Wie nötig es ist, von allem loszulassen, was man zu wissen glaubt. Aufrichtige Fragen zu stellen und über das reale Leben auf der Straße zu lernen. Er hörte auf, die fast Gleichaltrigen als „die anderen“ zu sehen. Er nahm sie auf einmal als Individuen auf Augenhöhe wahr. So lernte er von ihnen Wesentliches über sich selbst und erweiterte seinen Horizont. Die Jugendlichen aber fassten Vertrauen zu Jeffrey. Sie fühlten sich von ihm ernst genommen, gehört und verstanden. So wurden sie ihrerseits mehr und mehr bereit zuzuhören und sich zu beteiligen.

Das Wunder von Boston 1999 und die Jahreszeit des Friedens 2006

Der Straßenausschuss erarbeitete und vereinbarte mit den Gangs die „Boston 10 Point Coalition“. In der Folge ging die Gewalt massiv zurück. 1999 sank die Zahl der Morde an Jugendlichen in Boston auf 15. Die Deeskalation wurde als Wunder von Boston bezeichnet.

Jeffrey blieb dabei. 2006 wollte er einen Waffenstillstand voran bringen, um den Kreislauf von Rache und Gewalt zwischen den Banden weiter zu durchbrechen. Um darüber zu verhandeln, traf sich Jeffrey mit dem Ganganführer James, der sich sehr um die Seinen kümmerte. Zwei Tage nach dem Treffen wurde James niedergeschossen. Jeffrey traf einen großen Kreis der Freunde und Familie von James in der Klinik, als der auf der Intensivstation verstarb. Sie sannen auf Rache. Jeffrey ging mit ihnen nach draußen, um zu beten. Es gab nichts, was er hätte sagen oder tun können, um Leid und Wut zu lindern. Er besann sich auf die Mahnwache für den ermordeten Jungen seinerzeit. Wieder war er mit seiner ganzen Präsenz mit Ihnen da. Er betete und je länger er betete, umso mehr Leute begannen zu weinen und zu schluchzen. Irgendwann forderte er die Anwesenden auf, sich zu umarmen. Jemanden in den Arm zu nehmen, festzuhalten, zu trösten.

Er hatte in der Situation den Mut, die Menschlichkeit anzuschubsen. Nur ein kleiner Impuls. Nach der Beerdigung wurde der Waffenstillstand ausgerufen. Es wurde eine Jahreszeit des Friedens zwischen Erntedank und Silvester vereinbart, um das Schießen zu pausieren. Bis zum 1.1. sollte nicht geschossen werden. 22 Tage am Stück gab es keinen einzigen Schuss. Ein kleines Weihnachtswunder unserer Zeit.

Quelle

[1] Die Geschichte von Jeffrey Brown stammt aus Cuddy, Amy J. C.(2019): Ohne Worte alles sagen, Mit Körpersprache überzeugen – Der millionenfach geklickte TED Talk, Kap. 3, S. 93-120. Heute wird das Vorgehen des Straßenausschusses bei Amy Cuddy an der Harvard Business School als Fallstudie gelehrt. Jeffrey Brown ist Dutzende Male dazu gekommen. Wie er in Jeans und Hemd in den Dialog mit den Studierenden geht, hinterlässt immer wieder tiefen Eindruck.

@ Roland: Du hast mir das Buch mit dieser Geschichte einmal mit einem persönlichen Text zu Weihnachten zugeschickt. Ich danke Dir für ein solches Geschenk, das mich tief mit Freude füllt.

[2] Jede Kompetenz lässt sich für den anderen erst dann einsetzen, wenn eine vertrauensvolle Beziehung hergestellt ist. Vermeintlich zu wissen, was für den anderen gut ist, unterbricht jede Beziehung sofort. Der andere wird kaum annehmen, was ihm an Unterstützung angeboten wird. Ungefragter Rat kommt nicht an.


 

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