Unser Bewusstsein für Zeit ist kulturell geprägt. Was können wir über das rechte Timing lernen, wenn wir uns die bekanntesten griechischen Götter der Zeit betrachten – Chronos und Kairos?
Chronos und Kairos
Einer der bekanntesten griechischen Götter der Zeit ist Chronos. Chronos symbolisiert den unaufhörlichen Ablauf der Zeit und hat so auch Einzug in unsere Sprache gehalten. So sprechen wir z.B. von chronologisch im Zeitverlauf, von Chroniken als geschichtliche Darstellung in zeitlicher Folge, von der Uhr als Chronograph und chronischer Erscheinung bei anhaltenden Phänomenen. Bei Plänen der Zukunft spielt Chronos eine gewichtige Rolle: Schritte, Entscheidungen, Maßnahmen werden mit Zeitbedarf hinterlegt und in eine zeitliche Reihenfolge gebracht. Das ist gut so und wichtig und hilft uns Schritt für Schritt auf dem Weg, unseren Fokus auf das Ziel nicht zu verlieren. Bei soviel Huldigung von Chronos im Management neigen wir leicht dazu, einen anderen griechischen Gott der Zeit aus den Augen zu verlieren: seinen Bruder Kairos.
Kairos ist ein interessanter Geselle von sehr seltsamer Erscheinung: An den Fersen und im Rücken hat er Flügel, mit denen huscht er rasch vorüber. Auf dem Kopf trägt er eine eigenwillige Frisur. In der Vorstellung der Griechen war Kairos kahl geschoren und trug vorn einen überlangen Pony, der ihm bis weit unters Kinn reichte. Kairos symbolisiert die günstige Gelegenheit, den rechten Augenblick. Das erklärt die Frisur: Wenn der günstige Moment verbeihuscht, muss man achtsam und spontan ihn unmittelbar am Schopfe fassen. Macht man das nicht, ist er vorüber und am kahlen Kopf nicht mehr zu greifen… Weiterhin hält Kairos in einer Hand eine Waage, um die Qualität der Zeit zu wiegen. In der anderen hat er eine scharfe Klinge, um unnütze Bindungen an Vergangenes zu kappen. Und schließlich weist sein erigiertes Glied darauf hin, dass glückliche Momente vorüber gehen.
In einer Schrift aus dem 3. Jhd. v. Chr. ist folgender Dialog zu lesen:*
- Wer bist du? Ich bin Kairos, der alles bezwingt!
- Wozu läufst du auf Zehenspitzen? Ich, der Kairos, laufe unablässig.
- Wozu hast du Flügel am Fuß? Ich fliege wie der Wind.
- Wozu fällt dir eine Haarlocke in die Stirn? Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet.
- Wozu bist du am Hinterkopf kahl? Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbei geglitten bin, wird mich keiner mehr von hinten erwischen, so sehr er sich auch bemüht (…)
Den rechten Augenblick erwischt man nur von vorn, in dem man ihn beherzt beim Schopfe packt – ist er erst vorüber, bekommt man ihn nicht mehr zu fassen. Welche Gelegenheiten gilt es am Schopf zu ergreifen und wo ist es besser Chronos zu folgen? Wie halten wir uns offen, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen? Denn wenn die günstige Gelegenheit da ist, lassen sich die Dinge mit viel mehr Leichtigkeit umsetzen. Das Timing ist entscheidend. Es braucht ein Gespür für günstige und ungünstige Zeitpunkte. Günstige Gelegenheiten ergeben sich oft aus dem Augenblick heraus – sie huschen auf fliegenden Füßen leichtfüßig vorbei. Wer im Denken dann zu sehr in Chronos verhaftet ist, versäumt zuzugreifen. Einfach nur weil es im Plan so nicht vorgesehen ist.
Die Kunst ist es, Chronos und Kairos zu achten.
Dies ist kein Plädoyer dafür, ohne Chronos zu planen. Sondern mehr der Hinweis darauf, dabei Kairos nicht aus den Augen zu verlieren. Sich die Achtsamkeit im Hier und Jetzt – wie für bereichernde Gespräche mit Menschen – zu bewahren. Sind Menschen erst verstorben, kommt die Gelegenheit nicht wieder. Wenn Kairos sich zeigt, greifen Sie beherzt zu. Egal, was Chronos vorgesehen hat.
[*] Podeidippos von Pella (3. Jhd. v. Chr.) hat in seinen Epigrammen aus Olympia einen Dialog des Betrachters mit Kairos verfasst.