Der klare Verstand kann den Menschen trügen, der für eine Idee entflammt ist. Und so bilden sich durch Selbst-Korrumpierung trügerische Weltbilder, die nicht mehr so leicht aus der Welt zu schaffen sind…
Paul Watzlawick (1921-2007) hat in seinen Vorträgen in den 1980ern ein interessantes inkontingentes Belohnungsexperiment beschrieben:[1] Der Versuchsperson wird die Aufgabe gestellt, durch Versuch und Irrtum einen Sachverhalt zu erfassen, der ihr anfangs völlig unbekannt ist. Sie soll zweistellige Zahlenpaare beurteilen, von denen der Versuchsleiter eine lange Liste vorliest. Nach jedem Zahlenpaar soll sie entscheiden, ob die beiden Zahlen jeweils zusammenpassen oder nicht. Prompt kommt zunächst jedes Mal eine Rückfrage der Art: „Wie ist passen oder nicht passen gemeint?“. Dann erklärt der Versuchsleiter, dass das herauszufinden genau die Aufgabe sei. So findet sich die Person also jäh in einem kleinen Universum wieder, in dem sie den Sinn der Ordnung zu finden hat. Damit beginnen die Experimente.
Durchführung der Experimente
Es beginnt z.B. mit 48-12. Als Zusammenhänge könnten sich anbieten: beide Zahlen sind gerade, beide sind Vielfache von 2,3,4,6 und 12; sollte es sich um Minuten handeln, so ergäben beide zusammen eine Stunde usw. Die Person sagt also wahrscheinlich „passen“ und der Versuchsleiter antwortet „falsch“. Dadurch werden die gerade in Betracht gezogenen simplen Optionen bereits mit Sicherheit ausgeschlossen. Das nächste Zahlenpaar mag dann 17-83 lauten. Man kann sich überlegen, dass diesmal die kleinere vor der größeren Zahl kam; dass beide Zahlen nicht nur ungerade, sondern auch Primzahlen sind und außerdem zusammen 100 ergeben. Die Person entscheidet sich wahrscheinlich daher wieder für „passen“, was der Versuchsleiter wiederum für „falsch“ erklärt.
So geht es eine Weile, wobei die Antworten immer häufiger „richtig“ lauten. Dabei entwickelt die Versuchsperson schließlich eine, wenn auch noch nicht ganz hieb- und stichfeste, so doch anscheinend weitgehend richtige Hypothese über das „Zusammenpassen“ der Zahlen. An dem Punkt bricht der Versuchsleiter das Experiment dann ab, und lässt sich diese – meist sehr komplizierte – Hypothese erklären.
Dann erst klärt er die Person über die tatsächliche Nichtkontingenz des Experimentes auf: Er teilt ihr mit, dass der Versuchsaufbau nur scheinbar interaktiv war. Dass aber zwischen den Antworten und der Reaktion des Versuchsleiters kein ursächlicher Zusammenhang bestanden habe und er das Feedback „richtig“ vielmehr gemäß der ersten Hälfte der Gaußschen Glockenkurve zuerst selten und dann zunehmend häufiger gegeben habe. Der Glaube der Versuchsperson an einen interaktiven Versuchsaufbau alleine hat ihre Hypothesen über die Ordnung der zu erkundenden Welt erzeugt.
Resistente Weltbilder und Verstärkungen
Das Spannende kommt nun: Die meisten Teilnehmer können das nicht annehmen. Wer mühsam Ordnung in eine sinn- und regellos erscheinende Welt hinein konstruiert hat, ist nicht bereit, seine Konstruktionen und Überzeugungen ohne Weiteres aufzugeben. Er hält die bisher widerspruchsfreie Ordnung für eine gefundene und nicht für eine erfundene Wirklichkeit. Ja die – durchaus recht abenteuerliche – Ordnung ist nicht mehr nur eine plausible Möglichkeit die Wirklichkeit zu ordnen, sondern sie ist DIE Wirklichkeit. Die Resistenz kann u.U. so weit gehen, dass die Versuchsperson den Versuchsleiter zu überzeugen versucht, dass seiner Liste von Zahlenpaaren eine Ordnung zugrunde liegt, die dem Versuchsleiter entgangen ist.
Worin liegen nun die Belohnungen in den „Reward Experimenten“? Es wurde festgestellt, dass bei nicht mehr als 25 Prozent „richtige“ Beurteilungen die meisten Teilnehmer aufgaben und keinen Sinn in den Zahlenpaaren fanden. Wenn aber die Antworten etwa zur Hälfte mit „richtig“ bestärkt wurden, dann entstanden die ausgeklügeltsten, abstrusesten Thesen. Negatives Feedback wirkte dann bis zum gewissen Maße als Challenge, die erfahrene Selbstkompetenz zu verteidigen.[2] Wenn 75 Prozent der Antworten als „richtig“ quittiert wurden, war die Theorie der Erklärung vergleichsweise trivial. Zunehmende verbale Bestärkungen wirken sich demnach positiv auf die Motivation aus, an der Hypothesenbildung dran zu bleiben. Das kann zu denken geben, wenn man die Experimente als Platzhalter nimmt, wie sich ideologische Weltbilder bilden und durch Zuspruch gestärkt werden können.
Verführung eigener Erklärungen
Unsere Wahrnehmung konstruiert unsere Realität, die mit einer objektiven Realität nicht viel gemein haben muss. Trotzdem versucht der Mensch zu jeder Zeit, die Dinge und Geschehnisse einzuordnen und ihnen einen „Sinn“ zuzusprechen und sich so irgendwie „antwortend“ auf die Welt zu verhalten. Er versucht, seinem Kopf durch „Erkenntnis“ Orientierung und Ruhe zu verschaffen. Dafür sind abstrakte Erklärungsmodelle allemal gut. Sie reduzieren Komplexität und nähren das Bedürfnis nach Sicherheit. Und gerade eine einmal unter Mühen vermeintlich gefundene, jedoch realiter erfundene Idee von Ordnung ist man nicht leichtfertig bereit – für eine Leerstelle ohne Falsifizierungsbeweis – wieder aufzugeben.
Wie die Salutogenese und frühe Resilienzkonzepte zeigen, waren Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit nicht zuletzt in der deutschen Nachkriegsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine zentrale Coping Strategie. Um mit den Traumata umzugehen setzte oft ein Verdrängen des achtsamen Empfindens und eine einseitige Betonung des Verstandes ein. So brachte das 20. Jahrhundert eine Gesellschaft von Verstandesmenschen hervor. Zugleich gilt das 20. Jahrhundert als das Zeitalter der modernen Physik. Altert Einsteins berühmte Antwort an Werner Heisenberg bringt auf den Punkt: „Es ist durchaus falsch… eine Theorie nur auf beobachtbare Größen aufzubauen. In Wirklichkeit tritt gerade das Gegenteil ein. Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.“[3]
Menschliche Ressource
Durch die einseitige Betonung des Verstandes wird der Mensch von geistigen Ideen verführbar. Der klare Verstand kann den Menschen trügen, der für eine Idee entflammt ist. Und so bilden sich durch Selbst-Korrumpierung trügerische oder gar fanatische Weltbilder, die nicht mehr so leicht aus der Welt zu schaffen sind bis dahin, dass widersprüchliche Wahrnehmungen unbewusst ausgeblendet werden (Wahrnehmungsfilter/ Aufmerksamkeitsblinzeln/ Ego Bias/ fundamentaler Attributionsfehler) … Den rationalen Verstand dürfen wir als guten Berater – und Potenzial des Menschen über sich und die Welt überhaupt reflektieren zu können – nicht gering schätzen, doch das Steuerrad sollten wir ihm nicht überlassen. Zu leicht ist er durch unsere Eitelkeit, Gruppendynamiken und „dunkle Reize“ verführbar.
Zum Korrektiv hat der Mensch eine unschätzbare Ressource: in Verbindung mit sich und der Welt, ins eigene Erfahren und Fühlen ins Hier und Jetzt zu gehen. Dadurch kommen wir auf die modernen Konzepte von Resilienz, die unter der Prämisse eines dynamischen Weltbildes stärker das persönliche Wachstum (auch bei widrigen Umständen mit gewisser Zeitverzögerung) in den Blick nehmen. Doch das experimentelle Logikrätsel ist nicht an unterschiedlichen Lebenserfahrungen abzugleichen. Vielleicht wären die Reaktionen anders ausgegangen, wenn der Versuchsleiter weniger niederschmetternd geantwortet hätte…