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Bärenkraft: Dasein und Zuhören ohne bewerten

von Juli 10, 2025Impulsgeschichten

Die folgende Lektion vom Teddybären mit seiner stillen Kraft des Zuhören geht auf die sanft berührende Originalgeschichte der GFK-Trainerin Anja Palitza zurück: [1]

Hmm, naja

Tom lebte zurückgezogen in einer kleinen Stadt. Er war bekannt dafür jede noch so ernste Situation schlicht mit „Hmm, naja“ zu kommentieren. Egal was – ob er seinen Arbeitsplatz verloren hatte oder die Katze des Nachbarn verschwunden war – Tom wirkte irgendwie immer gleichgültig. So war es auch eines Abends wieder. Unerwartet kam ein Freund in tiefer Not vorbei und schüttete Tom sein Herz aus. Dessen Frau hatte sich von ihm getrennt. Tom schaute den Freund an und murmelte: „Hmm, naja. Sowas passiert.“ Das ließ den Freund verstummen und mit einer Bemerkung über Toms „unglaubliche Gefühllosigkeit“ ging er, ohne sich zu verabschieden.

Nun beschloss Tom, dass es an der Zeit war herauszufinden, warum er kaum Emotionen spürte und nicht über Gefühle sprechen konnte. So machte er einen Termin bei einer Psychologin aus. Die begrüßte ihn und fragte: „Wie fühlen Sie sich heute?“ Tom überlegte und antwortete: „Hmm, naja. Ich bin hier.“ Überhaupt sagte er im ersten Termin nicht viel mehr. In der zweiten Sitzung bat die Psychologin Tom aufzuschreiben, welche Gefühle er kenne. Tom starrte lange auf das leere Blatt Papier und schrieb am Ende: „1. Hungrig. 2. Müde. 3. Hmm, naja.“ Die Sitzungen gingen weiter. Wie auch immer die Psychologin mit Tom arbeitete, Tom lernte nicht, Gefühle genauer auszudrücken, geschweige denn weitere Emotionen zu entdecken. Am Ende schenkte sie Tom einen großen Teddybären und gab ihm die Aufgabe, den Bären abends zu umarmen und ihm etwas über seinen Tag zu erzählen.

Der Teddybär kann still zuhören

Tom war skeptisch bezüglich der kindischen Idee, doch nahm er den Teddybär mit nach Hause. Abends schaute er den Bären an und murmelte: „Hmm, naja. Jetzt hab‘ ich Dich hier sitzen.“ Mehr geschah in den ersten Tagen nicht. Tom sah wenig Sinn in der Aufgabe. Doch er dachte bei sich: „Hmm, naja. Die Psychologin wird sich etwas gedacht haben, sie hat ja über Gefühle studiert.“  
In der zweiten Woche erzählte Tom also – nur um die Aufgabe zu erfüllen – abends ein wenig von seinem Tag. Der Bär bewertete und urteilte nicht, er schwieg. Tom beendete den Monolog meisten mit Worten wie: „Hmm, naja. Antworten kannst Du ja eh nicht.“

Eines Abends in der dritten Woche – Tom hatte sich bereits daran gewöhnt, täglich den Bären an sich zu drücken und ihm eine Zusammenfassung seines Tages zu liefern – sagte er zum Bären: „Hmm, naja. Wenigstens kann ich Dir etwas erzählen, ohne dass Du sagst, dass ich gefühllos bin. Darüber bin ich schon ein wenig erleichtert.“ Verwundert über seine Worte fragte sich Tom im Stillen: „Erleichtert…?“. In der Folge erzählte Tom dem Bären abends immer mehr. Auch ein paar Erlebnisse, die er sonst niemand erzählen würde. Der Bär schwieg. Er blieb wie jeden Abend still bei ihm, was Tom jetzt nicht mehr „Hmm, naja.“ fand, sondern ganz beruhigend. Er begann von Dingen zu erzählen, die ihn beschäftigen. Und der Bär schwieg. „Weißt Du was, Bär?“, sagte Tom. „Dass Du einfach so zuhören kannst, dass macht mich ganz froh.“ Und er staunte sogleich: „Froh…?“.

Zuhören ohne zu bewerten

Bald begann Tom auch von seinen Sorgen zu erzählen. Der Bär schwieg und Tom spürte zum ersten Mal in seinem Leben eine Art von Ruhe und Geborgenheit im Gespräch. Beflügelt mailte er der Psychologin, dass er viel lerne und mit den Fortschritten sehr glücklich“ sei. Und er begann seinen Freunden und Verwandten, offener über sich zu erzählen. Das klappte gut, denn er bat sie vorher, ihm nur zuzuhören, ohne etwas zu sagen. Toms Leben veränderte sich. Er erlebte, dass er über seine Gefühle sprechen konnte. Er musste nur frei von Angst sein, dass andere dies bewerten oder darüber urteilen könnten. Immer mehr interessierte es ihn, die Nuancen seiner Gefühlswelt zu erkunden. Und das alles Dank eines kuscheligen Teddybären, der nur zuhörte und nichts bewertete…

 

Sind wir selbst ein bißchen wie Tom?

Tom kann für viele Menschen unserer Gesellschaft stehen – von Kriegskindern über die Babyboomer bis hin zur Generation X in Deutschland. Vielen war es im Umfeld, in dem sie aufwuchsen, nicht in die Wiege gelegt, Gefühle zu erkennen und zu benennen. Sie mussten und müssen erst Schritt für Schritt lernen, Worte für Gefühle zu haben und über diese zu reden. Sie haben früh gelernt, dass es in einer emotional unbeständigen Umwelt sicherer war, wenig zu fühlen und Gefühle wegzupacken. Das ist keine bewusste Entscheidung, sondern Folge der unbewussten Dissoziation vom Körper und seinen Emotionsäußerungen. Ein Überlebensinstinkt. Durch Überrationalisierung als Kompensationsstrategie „fühlte“ sich der kleine Mensch in seiner Ohnmacht sicherer, „empfand“ Kontrolle in seiner emotionalen Überforderung und entwickelte sich so immer mehr zum „Kopfmenschen“.

Tom hat die bewusste Gefühlswahrnehmung nie gelernt und scheitert darin, einen kognitiven Zugang dazu zu finden. Um Gefühle aus sich heraus zu fühlen, bedarf es der Wahrnehmung des Körpers, der Verbindung zu sich selbst und seiner energetischen Lebendigkeit. „Hmm, naja“ ist ein Ausdruck dieser Lücke. Die NS Erziehungsmethoden, die zumindest noch bis in die 1960er Jahre gängige Praxis waren, [2] – nämlich Kinder nur nicht durch Gefühle zu „verweichlichen“ – trugen viel zur Kappung der Selbstverbindung bei und führte zu Bindungstraumata eigentlich sensibler Menschen. Das Ergebnis ist eine Leistungsgesellschaft, in der der Ausdruck von Gefühlen verachtet und als „Schwäche“ abgewertet wurde. Mit Individuen, die die Verbindung zu sich selbst und damit echte Beziehungsfähigkeit mit anderen verloren haben. 

Geborgenheit und Sicherheit durch Umarmungen

Das stetige Verdrängen von Emotionen hat einen hohen Preis. Es hat lange gebraucht, bis es Tom bewusst geworden ist.

Tom wagt das Verlassen seiner Komfortzone Stück für Stück, um sich selbst zu begegnen. Und der Teddybär hilft ihm bei der Regulation erster Gefühlsregungen, indem er einfach ist und bleibt und im Zuhören einen sicheren Raum hält. Die körperliche Nähe durch das tägliche Umarmungsritual legt dazu eine wichtige Basis: Sie beruhigt, stärkt Verbundenheit, Sicherheit und Geborgenheit. Denn das Gehirn schüttet bei einer wohltuend gehaltenen Umarmung von mindestens 20 Sekunden das beruhigende „Kuschel-Hormon“ Oxytocin aus. Stresshormone wie Cortisol werden zugleich reduziert, was uns hilft, entspannter zu bleiben.[3] So wirkt eine Umarmung (co-)regulierend und hilft, emotionalen Belastungen zu verarbeiten. Auch wenn es nur ein Teddy ist, den wir umarmen. Wenn das aber schon ein Teddybär kann, wieviel Kraft kann dann erst das Dasein und die stille Umarmung eines Menschen geben?

Teddybär und seine Bedeutung - nicht nur für Kinder

[1] Vgl. Palitza, A. (2025): Gewaltfrei leben, Newsletter Nr. 695, Wie Thomas über das „Hmm, naja…“ zu seinen Gefühlen fand.

[2] Der Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer (1900-1988) wurde 1934 erstmals veröffentlicht und prägte die Erziehung im Nationalsozialismus. Er wurde in überarbeiteter Form als „Die Mutter und ihr erstes Kind“ noch bis 1987 (!) weiter herausgegeben. Zahlreiche Wissenschaftler wie Sigrid Chamberlain haben sich damit befasst, wie die Kriegskinder und deren Kinder damit durch eine Erziehung zu kalter Bindungslosigkeit geprägt wurden, um für ein gewalttätiges Regime zu funktionieren.

[3] Regelmäßige Umarmungen können sogar das Herz-Kreislauf-System stabilisieren, den Blutdruck senken und das Immunsystem stärken. Vgl. dazu etwa die aktuelle Nature Studie von Packheiser, J.  et. al. (2024):A systematic review and multivariate meta-analysis of the physical and mental health benefits of touch interventions“, in: Nature Human Behaviour, Vol. 8, S. 1088-1107, https://doi.org/101038/s41562-024-01841-8 (zuletzt abgerufen am 18.4.2025).