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Festen Stand in sich selbst finden: Vom Vater, Sohn und dem Esel

von Mai 23, 2022Impulsgeschichten

Die alte orientalische Weisheitsgeschichte vom Vater, seinem Sohn und dem Esel (hier in der Vertonung von Peter Alexander) zeigt, wie unterschiedlich die Ansichten zu ein und demselben Sachverhalt sein können.[1] Dabei führt sie uns Sperren in der Kommunikation vor Augen und veranschaulicht wie wichtig es ist, im Leben einen festen Stand in sich selbst zu finden. Denn selten im Leben lassen sich die Dinge schwarz/ weiß beurteilen.

In der glühenden Mittagshitze zogen ein Vater und sein junger Sohn mit ihrem gerade auf dem Viehmarkt gekauften Esel durch die Gassen hinaus aus der Stadt. Die beiden hatten das Tier in ihre Mitte genommen und liefen so neben dem Esel her nach Hause. Da kam ihnen ein Fremder entgegen und machte sich über sie lustig: „So dumm möchte ich ja nicht sein. Wozu führt ihr denn den Esel spazieren, wenn er nichts leistet, euch keinen Nutzen bringt und nicht einmal einen von euch trägt?“ Der Vater dachte darüber nach und setzte sich dann auf den Esel. So setzten sie den Heimweg fort. 

Also saß der Vater auf dem Esel und der Junge ging nebenher. Ein Passant kommentierte die Szene:

„Der arme Junge. Seine kurzen Beine können ja mit dem Tempo des Esels kaum mithalten. Wie kann ein Vater so faul auf dem Esel sitzen, während der Junge vom Laufen ganz müde wird.“ Der Vater nahm sich die Worte zu Herzen, stieg sogleich ab und hob seinen Sohn auf den Esel.

Bald darauf rief ihnen ein anderer Mensch hinterher: „Jetzt seht euch die beiden an. Der Sohn thront wie ein Sultan auf dem Esel, und sein armer alter Vater muss nebenherlaufen.“ Dies schmerzte den Jungen, der daraufhin den Vater bat, sich hinter ihm auf den Esel zu setzen. Das tat der Vater auch sogleich.

Aber kaum war der Esel wieder ein paar Schritte gelaufen, hörten sie erneut eine empörte Stimme: „Hat man so etwas schon gesehen? So eine Tierquälerei, wie die beiden ihren Esel quälen! Der Rücken des armen Esels hängt durch, und der alte und der junge Nichtsnutz ruhen sich auf ihm aus. Als wäre die arme Kreatur ein Diwan!“ Daraufhin stiegen Vater und Sohn wortlos ab. Der Vater packte den Esel bei den Vorderbeinen, der Sohn nahm den Esel bei den Hinterbeinen. So trugen sie beide ihr Tier den Rest des Weges nach Hause.

Als sie dort endlich ziemlich spät und erschöpft ankamen, sagt die Frau des Vaters: „Ihr seid vielleicht zwei Dummköpfe! Warum lasst ihr den Esel nicht selbst zu seinem neuen Stall laufen…?“.

 

Es allen Recht machen wollen und das Polylemma

Sich an Erwartungen und Regeln des Umfeldes zu orientieren, erleichtert oft das Zusammenleben. Fragt man jedoch fünf Menschen, erhält man nicht selten fünf Meinungen. Bei fünf gleichwertigen Alternativen, bei der es keine eindeutig überlegene Strategie gibt, wird es wohl nie gelingen, es allen recht zu machen. Das ist ein Di-lemma bei zwei Meinungen und ein Poly-Lemma bei mehreren Meinungen. Finden wir in unseren Entscheidungen keine festen Stand in uns selbst, drohen wir zum Spielball anderer Meinungen zu werden. Das Sprunghafte im Handeln, was von außen aktionistisch und wenig vertrauensfördernd wirkt, entsteht aus der inneren Unsicherheit heraus. Wer aber – aus Angst vor Ablehnung anderer etwa – jedem gefallen und es allen recht machen will, der kann nur scheitern. Am Ende macht er es keinem Recht und verdrängt noch dazu die eigenen Bedürfnisse.

Ebenso mag die Situation in Kliniken gerade anmuten: Mangels Fachpersonal und Ressourcen stehen die Menschen in den patientennahen Bereichen angesichts des Polylemmas vom „Auftragskarusell“ nicht zu vereinbarender Anforderungen vor einer unauflösbaren Situation. Im Widerspruch zueinander stehende Anforderungen von Mitarbeitern, zusammenarbeitenden Berufsgruppen, unmittelbaren Vorgesetzten, Klinikleitung, Patienten und sich selbst. Auch hier gilt: Es ist schlicht nicht möglich, alle Ansprüche zu bedienen. Die einzige Lösung in dieser Lage ist es, einen festen selbstverantworteten Stand in sich selbst zu finden und die eigenen Gewissensentscheidung zu vertreten.

Festen Stand in sich selbst finden

Bernhard von Clairvaux (1090-1153) brachte dies in einer späten Schrift (Über die Betrachtung) für Papst Eugen III. schon im 12. Jahrhundert auf den Punkt:  Für eine selbstverantwortliche Lebensführung kommt es auf einen solchen festen Stand in sich selbst an, sodass man sich nicht von äußeren Ansprüchen treiben lässt. Der Mensch soll nach seinen besten Möglichkeiten leben und sich nicht hoffnungslos überfordern.[2] Das meint: Vater und Sohn sollen demgemäß – in Termini heutiger Psychologie – auf dem Weg zu sich selbst zunächst einmal ihr Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und ihre Selbstliebe entfalten.[3] Um liebevoll mit sich selbst umzugehen und gut für sich zu sorgen, braucht es zunächst keinen anderen. So entfalten sich auch die Fähigkeit, Ambiguität und Widerstände auszuhalten.

Kommunikationssperren: Ungefragt Feedback geben

Die Geschichte zeigt zugleich auch die andere Seite – eine häufig anzutreffende Kommunikationssperre: Menschen ermächtigen sich, ungebeten Feedback zu geben und ihre Meinung zu Dingen zu äußern, zu denen sie gar nicht gefragt wurden. Derjenige aber, der gar nicht nach der Rückkopplung gefragt hat, sondern damit überfallen wird, wird sich eher angegriffen fühlen. Normalerweise wird er sich selbst rechtfertigen, sein Vorgehen und seine Position verteidigen. Daraus entwickelt sich dann leicht ein Gespräch, in dem es darum geht, Recht zu haben. Die Fronten verhärteten sich, die Beziehung wird gestört, die Vielheit der möglichen Meinungen nicht nebeneinander gelten gelassen… So beginnen innere und äußere Konflikte.

Eine gute Übung zur Selbstreflexion besteht darin, sich selbst zu überprüfen, wann man zuletzt der Neigung nachgegeben hat, ungefragt seine Meinung bzw. sein Feedback zu geben, statt erst sachte anzuklopfen und die Bereitschaft des anderen zum Hören abzufragen. Was steckte dahinter? Welches Bedürfnis wollte man sich selbst damit erfüllen? Eine weitere gute Übung der Achtsamkeit ist es, seine Meinung das nächste Mal einfach einmal für sich zu behalten und nicht zu kommentieren, was der andere meint oder tut – vor allem auch nicht gegenüber Dritten. Wie schwer fällt mir das? Was steckt dahinter? Welches Bedürfnis will ich mir mit meinem Kommentar erfüllen?

Diese und andere Kommunikationssperren – wie Thomas Gordon sie nennt – belasten die Beziehung, da sie anderen den eigenen Willen überstülpen und den anderen verändern wollen.[4] So verhindern sie den offenen Dialog und echte Verbindung von Mensch zu Mensch. Jede Art von direktiver Kommunikation stellt eine Kommunikationssperre dar. Ebenso jede Form von Bewertung und Belehrung und Ausfragerei. Und auch der ungefragte Rat ist eine der prominenten Kommunikationssperren.

Frage ich es ab und will der andere mein Feedback hören, dann weiß ich, es ist willkommen.

Nur mit willkommenen Feedback wird sich ein echter offener Dialog entspannen. Was aber noch nichts darüber sagt, wie der andere mit dem Feedback umgeht. Ob er es annimmt oder nicht, ist dessen Selbstverantwortung überlassen. Feedback beinhalt, eine persönliche Meinung zurückzuspiegeln, und hat nichts mit disziplinarischer Anordnung oder Durchsetzung zu tun. Das zu akzeptieren ist weise…

 

[1] Frei nach Nasreddin Hodscha (1996): 666 wahre Geschichten. Hrsg. v. Ulrich Marzolph, München, S. 196 f. Der im türkisch-islamisch beeinflussten Raum vom Balkan bis nach Zentralasien unter diversen landeseigenen Namen bekannte Protagonist Hodscha Nasreddin, der hier als Vater in Erscheinung tritt, soll im 13./14. Jahrhundert in Anatolien gelebt haben. Die Geschichte wurde 1974 in ähnlicher Form von Peter Alexander unter dem Titel „Der Esel, der Bauer und sein Sohn“ vertont.

[2] Emotionen machen das Selbsterleben aus. Das umfasst auch negative Emotionen, unangenehme Gefühle: Diese weisen darauf hin, mehr bei sich  zu bleiben, für sich selbst einzustehen und aktiv werden. Sie sind hoch energiezehrend, weil sie sofort in die Aktion bringen möchten. Auf lange Sicht nicht aufgelöste schmerzhafte Emotionen zehren darum substanziell an unseren Kräften. Und so empfiehlt Bernhard von Clairvaux mit der Metapher von der Schale der Liebe, dass man sich hier zuerst darum kümmern soll, die die eigene Schale wieder gut zu füllen, und in der Fülle wieder in seine ganze Kraft zu kommen.

[3] Schlüsselbegriffe zum festen Stand in sich Selbst finden

Schlüsselbegriffe Erklärung Gegenteil
  • Selbstwertgefühl
  • Gesundes pos. Selbstbild
  • Selbstachtung
  • Selbstannahme
  • Geprägt durch Erfahrungen der frühen Kindheit
  • nun in Selbstverantwortung
  • Sucht n. Bestätigung von außen
  • unbewusste Selbstverachtung
  • Selbstabwertung (sich vergleichen und bewerten)
  • Minderwertigkeitsgefühl
  • Stabiles Selbstvertrauen
  • Liebevoller innerer Dialog (welchen inneren Stimmen folge ich)
  • Bedingungslose Selbstachtung
  • Vertrauen in die eigenen Stärken & Fähigkeiten
  • Schwungrad des Erfolges
  • Geringes oder überhöhtes Selbstvertrauen konditioniert
  • als Erwachsene selbst auf inneren Kritiker zu achten
  • Realistisches Selbstbewusstsein
  • Positives Selbstbild
  • Glaube an sich selbst
  • Selbstsicherheit
  • Durchsetzungsfähigkeit
  • Zu sich und seinen Werten stehen
  • Autonomie: kann Wünsche äußern, Nein sagen, Lob und Kritik annehmen, Kontakte knüpfen, seine Meinung sagen, sich behaupten, …
  • Ego-Zentrierung, Sorge um sich selbst steht an erster Stelle
  • sich selbst gut behandeln
  • sich selbst wertschätzen
  • Beziehungslosigkeit

[4] Thomas Gordon hat identifiziert, dass es vielfältige Kommunikationsweisen gibt, die die Verbindung zwischen Menschen versperren, wie: befehlen, urteilen, beschuldigen, kritisieren, verhören, interpretieren, analysieren, beschämen, warnen, drohen, ablenken, beschwichtigen, ausweichen, loben, schmeicheln, belehren, moralisieren, predigen. Hinter allen Kommunikationssperren steckt, dem anderen nicht offen in seinen Bedürfnissen von Mensch zu Mensch zu begegnen.