Übereinander richten, einander verurteilen und bestrafen – all das scheint notwendig, wenn es um die Durchsetzung von allgemein gültigen Regeln geht. Um Gerechtigkeit herzustellen. Doch manchmal ist es auch nötig, gütig die persönliche Situation zu berücksichtigen und aktiv Gnade und Barmherzigkeit vor das Recht zu stellen. Weil es individuell fair ist. Ein Lehrstück ist die folgende Anekdote aus dem Leben von Fiorello Enrico La Guardia (1882-1947).[1]
An einem eisigen Wintertag um das Jahr 1935 stand in einem ärmlichen Bezirk von New York ein zitternder alter Mann vor dem Polizeirichter. Er hatte einen Laib Brot gestohlen, wurde erwischt und der Polizei übergeben. Der Mann gab den Diebstahl zu. Zu seiner Verteidigung sagte er, die blanke Not habe ihn getrieben. Er müsse seine Familie ernähren, habe aber kein Geld und musste deswegen stehlen. Polizeirichter war der für seinen Gerechtigkeitssinn bekannte New Yorker Bürgermeister Fiorello Enrico La Guardia, der hin und wieder in diesem Richteramt aushelfen musste.
Gesetz ist Gesetz. Gerechtigkeit heißt, das Gesetz ohne Ansehen der Person umzusetzen. Sich dessen bewusst, verurteilte La Guardia den alten Mann zu einer Geldstrafe von zehn Dollar, wie es das Gesetz bei einem entsprechenden Diebstahl damals vorsah. Dann aber griff er in seine eigene Tasche. Er zog aus ihr einen Zehn-Dollar-Schein und steckte ihn dem Mann zu. Zu den Anwesenden sprach er weiter: „Und ich erlege Ihnen allen hier eine Geldbuße von 50 Cent auf. Da Sie in einer Stadt leben, in der ein Mensch, um zu überleben, Brot stehlen muss.“ Der Gerichtsdiener sammelte das Geld tatsächlich ein und übergab es auf Geheiß La Guardias dem armen Mann. Der aber konnte fassungslos mit 47,50 Dollar den Saal verlassen.
Gerechtigkeit und Barmherzgkeit
La Guardian Handeln zeigt, wie Gerechtigkeit und Fairness Hand in Hand gehen können. Was für alle verlässlich und gerecht sein soll, wird vereinbart. Gerechtigkeit schafft Ordnung und soziale Ruhe. Menschen können mit den Regeln leben, solange der individuelle Preis dafür nicht zu hoch ist. Was aber wirklich fair ist, bleibt doch immer die Entscheidung einer inneren Haltung, ein Empfinden innerer Stimmigkeit. Dabei kann es durchaus so sein, dass es Gnade und mehr noch Barmherzigkeit braucht, um sich über das vermeintlich Gerechte hinwegzusetzen, und bewusst und nachvollziehbar aus einem festen inneren Stand heraus und im Mitgefühl füreinander zu verantworten, was situativ fair ist ohne willkürlich zu werden.
Für La Guardia stimmte etwas nicht in seiner Stadt New York, wenn Familien in den unteren Bevölkerungsschichten für das Lebensnotwendige stehlen müssen und Kinder nichts zu essen haben. Beschämende Szenen spielen sich ab, vor denen er nicht die Augen verschließen wollte. „Im Namen des Volkes“ Recht zu sprechen, aber ein Verständnis für innere Zusammenhänge verloren zu haben, pervertiert jedes gesunde Gerechtigkeitsempfinden. Darin kann La Guardia Verhalten Vorbild sein: Der Ge-RECHT-igkeit Rechnung zu tragen und doch nicht abzustumpfen gegenüber den Nöten eines anderen. Sich ein menschliches Empfinden für Gerechtigkeit und Fairness zu bewahren. Ja mehr noch, sich dafür mit Wort und Tat mit seiner ganzen Person einzusetzen.
Mit dieser weltlichen Ethik steht La Guardian keineswegs alleine. Schon Aristoteles stellte der Gerechtigkeit die Güte zur Seite, eine durch das Gewissen zu leistende Korrektur der Gesetzesgerechtigkeit, um die Intention der Norm zu erreichen. Darum geht es bei der Fairness. Das Maß ist hier das innere Empfinden bzw. das eigene Bedürfnis auf einen stimmigen Ausgleich von Geben und Nehmen.
Gerechtigkeit
Verstehen wir Gerechtigkeit als Gesetztesgerechtigkeit. Dann ist sie ein ethischer Wert, der sich am Wert der Gleichbehandlung und auf Recht, Norm und Gesetz und entsprechend rechtschaffenes Verhalten bezieht. Sie unterstellt, dass mit diesen Regelungen Gerechtigkeit geschaffen wird. Gerecht zu sein, strebt dann nach dem gehorsamen Einhalten vorhandener Normen, Regelungen und Gesetze – ohne Ansehen der Person. Gesetze sind für gängige Fälle allgemein gefasst, und können damit nicht in jedem Einzelfall das Intendierte ausdrücken. So muss das vom Gesetz als gerecht Verlangte bei innerer Prüfung nicht zwingend das wirklich Gewollte sein. Doch die Regel ist einschätzbar und verlässlich und dient so dem sozialen Frieden. Gesetze sind daher ein Meilenstein der Zivilisation.
Der Einzelne wird nicht willkürlich (anders) behandelt – wenn das zugrunde liegende Recht ohne Ansehen der Person für alle gleichermaßen gilt. Die Beurteilung ist berechenbar, im besten Fall erklärbar und nachvollziehbar. Das Gesetz könnte situativ verbessert werden, um der Lebenswirklichkeit in einer immer komplexeren Welt besser zu entsprechen. Nicht zuletzt damit Gesetzeslücken von Einzelnen nicht ausgenutzt werden. Und doch ist es Utopie, mit einer allgemeinen Regelung jeden Einzelfall und jede Eventualität sachgerecht abzubilden. So ist diese Verlässlichkeit auf formale Gerechtigkeit zwar notwendig für sozialen Frieden, doch auch nicht hinreichend für das Wachsen von Vertrauen und Beziehung unter den Mitgliedern eine Gesellschaft.
Fairness
Hier kommt die Fairness ins Spiel. Was ein Mensch letztlich als fair empfindet, entscheidet nur er selbst. Wenn er sich fair und gerecht behandelt fühlt, dann hat dies Einfluss auf seine Offenheit, sein Denken und Verhalten. Auf Leistung und Kooperation auch in unsicheren Zeiten.[2] Es gibt keinen allgemeingültigen Maßstab dafür, was individuell situativ fair ist. So ist hier jeder mit der eigenen Haltung und dem eigenen Gewissen gefordert. Wenn individuell fair empfundenes Verhalten von anderen als Benachteiligung empfunden wird, kommt eine Unwucht ins Team. Es ist die Kunst der Beziehungsgestaltung, immer wieder die rechte Balance zu finden, mit Menschen gerecht und individuell fair umzugehen. Das ist die Basis, auf der Vertrauen gedeiht oder vernichtet wird.
Gerechtigkeit und Fairness sind beide wichtig. Doch fair und gerecht zu sein, deckt sich nicht zwingend miteinander.[3] Es schürt Konflikte, wenn Gerechtigkeit und/ oder Fairness nicht gegeben sind. Es gibt nur den Ausweg:
- An existierende Regeln dürfen wir uns verbindlich halten.
- Jede Ungleichbehandlung will aktiv vertreten werden können.
- Es wird passieren, dass wir das Fairness-Gefühl von Menschen verletzen.
Wir können das nur kommunikativ aufarbeiten.
Wenn sich der Einzelne als Person mit seinen Bedürfnissen gesehen, wahrgenommen und unterstützt fühlt, kann er viel ertragen. Auch ein Stück weit Ungerechtigkeit und Unfaires. Auch Eltern werden ihre Kinder nicht alle gleich und gerecht behandeln. Intuitiv gehen Eltern mit jedem Kind, seinem Wesen und seinen Interessen gemäß um. Und wenn sie es zum besten Wohle jedes Kindes tun, fühlt sich dabei trotzdem kein Kind gegenüber dem anderen unfair behandelt. Dann kann Friede in der Familie herrschen.
Sind 50 Cent Auflage zur Buße fair und gerecht?
Mit den 10 Dollar aus der eigenen Tasche lässt es La Guardia jedoch nicht bewenden. Er fordert von jedem im Raum 50 Cent Abgabe, da ein Mensch in der Stadt Not leidet. Die Menschen folgen dem, so dass der Notleidende am Ende die Sammlung von 47,50 Dollar erhält. Das war sicherlich nicht gerecht, gegenüber den Menschen, die zugegen waren. Ein Gesetz dafür gab es nicht und sicherlich wäre der Richterspruch nicht juristisch durchsetzbar gewesen. Und doch hat La Guardia sein Fairness-Urteil nachvollziehbar erläutert. Denn wenn Menschen weder Gerechtigkeit noch Fairness empfinden, dann blockieren sie. Sie haben kein Vertrauen in die Vorgänge und sind nicht bereit, mitzuwirken. Sie hätten ohne Sammlung für den Notleidenden den Gerichtssaal verlassen.