Marketing hebt den Nutzen aufs Tableau. Wie sonst konnte sich Werbepionier Rosser Reeves jahrelang mit seiner Bettel-Strategie für einen blinden Bettler rühmen? Doch wenn man hinter die Fassade schaut: Wie sehr könnte sich das Miteinander durch mehr echte Anteilnahme verändern?
Der Marketing Pionier Rosser Reeves erzählte gerne folgende Anekdote:
Es war Ende April. Die ersten warmen Tage in diesem Jahr. Der Central Park in New York war ein einziges buntes Blumenmeer: Tulpen und Narzissen blühen unter hunderten von rosafarbenen Kirschbäumen. Seit einigen Tagen steht am Rande des Parks ein alter Mann und bettelt. Vor sich hatte er ein Schild gelegt: „Ich bin blind und bitte um Ihre Spende.“ Doch die Menschen hetzen an ihm vorbei. Nur wenige Münzen liegen in seinem Hut.
Rosser Reeves arbeitet in der Nachbarschaft. An diesem Tag bleibt er auf dem Rückweg vom Mittagessen stehen und bittet den Blinden, ihm das Schild zu reichen. Rosser Reeves dreht das Schild um, schreibt etwas darauf und gibt es dem Bettler wieder. Dann geht er weiter. Später auf dem Heimweg schaut er wieder beim Blinden vorbei. In seinem Hut sind reichlich Münzen. Er spricht den Bettler darauf an. Als der Blinde realisiert, wer vor ihm steht, fragt er: Was haben Sie auf mein Schild geschrieben, Mann? Ich habe noch nie so viel Geld bekommen wie heute“. Rosser Reeves lächelt und liest ihm vor, was er ergänzt hat: „Heute ist ein wunderschöner Tag. Ich wünschte, ich könnte ihn sehen.“
USP und Kontrastprinzip: Gefühle der Passanten triggern
Rosser Reeves (1910-1984) ist einer der wichtigen Wegbereiter der Werbeindustrie, ein Star der Marketing-Branche. Anfang der Fünfziger bringt er erstmals Werbung ins Fernsehen. Und als Wahlkampfberater von Dwight D. Eisehower rückt er die Persönlichkeitsvermarktung in den Blick. Er hat den Begriff der Unique Selling Proposition, USP, dem Alleinstellungsmerkmal, ins Marketing eingeführt. Die Werbung soll diese USP kommunikativ auf den Punkt bringen. Jedes Produkt braucht eine dem Kunden nutzende Besonderheit. Das erlaubt es dem Kunden, das Produkt zu seiner Strategie zu erwählen, um sich damit gute Gefühle zu machen und gezielt Bedürfnisse zu erfüllen.
Übertragen auf den Bettler folgt daraus die Frage: Wann lassen sich Menschen bewegen, einen Bettler zu unterstützen? Welche Gefühle und Bedürfnisse können sie sich damit erfüllen? Sicherlich, wenn sie eine echte akute Not wahrnehmen, die sie mildern können. Die Strategie muss also darauf die Aufmerksamkeit lenken und den emotionalen Anker auf diesen einen Menschen legen. Gerade diesen Bettler im Central Park sollten sie unterstützen.
Rosser Reeves erkennt, dass der Bettler die Vorbeieilenden mit seiner Bitte um Geld nicht zum Geben animiert. In Reeders Marketing Denken hatten der Bettler im Vergleich zu diesen doch einen klaren USP: Er ist blind. Wie könnte es gelingen, hier einen Link zu den Gefühlen der Passanten herzustellen? Reeves stößt die Passanten mit der Nase auf das Kontrastprinzip, damit sie emotional die Not im Kontrast zum eigenen Glück wahrnehmen: Zum einen der schöne Frühlingstag für die Passanten im blühenden Central Park, der der Seele wohltut. Und zum anderen der Blinde, der all das Schöne nicht sehen kann. Daraus wird eine emotionale Geschichte. Das Gefühl ein Geschenk erhalten zu haben, dass ein anderer nicht erlebt, motiviert zum Geben, um für einen Ausgleich zu sorgen. Oder etwas gegen das Gefühl von Ohnmacht zu tun.
Gerne beweihräucherte sich Rosser Reeves mit der Geschichte, dass er mit einer anderen Marketing Verpackung dem Bettler hohe Spenden generierte. Er hat dem blinden Bettler situativ eine wahrlich effektivere Bettel-Strategie geschenkt. Das also ist Marketing.
Abhängigkeit und Bedürftigkeit weiter verschärft
Doch ein wirklich warmes Wort oder Achtsamkeit für den Bettler als Menschen, hatte er nicht. Es ging um nur um die Gefühle und Bedürfnisse der Passanten, nicht aber um die des Bettlers. Symptomatisch: der Bettler, der um Almosen bittet, wird nicht als Person wahrgenommen, hat nicht einmal einen Namen. Er bleibt nur ein Bettler und kein gleichwürdiger Mensch. Die Passanten haben womöglich ein schlechtes Gewissen gegenüber einem weniger Privilegierten beruhigt, aber was wissen Sie von den wahren Bedürfnissen des Bettlers? Geld geben ist – je nach Haltung dahinter – selten die gute Tat, die 1:1 zur Erfüllung von tieferen Bedürfnissen bei sich und dem anderen beiträgt.
Dafür müssten die Geber dem Bettler gleichwertig, eher wie mit der Liebe zu einem alten Freund begegnen. Was würde das im Zusammenleben ändern, wenn Menschen mehr aus der Haltung echter Anteilnahme agieren? Als Kinder werden sie in ein hierarchisches System hinein geboren und so seit Jahrtausenden sozialisiert. Da sie es nicht anders kennen, stellten sie es in der Vergangenheit häufig auch nicht in Frage. In dem System gibt es Menschen, die mehr Ressourcen zur Verfügung haben als andere. Mehr finanzielle Mittel, mehr Kraft oder mehr Wissen. Sie nehmen im System andere Rollen ein.
Wir sehen eine Person nicht unabhängig von ihren Ressourcen: Ein Bettler ist dann eben eine gescheiterte Existenz, der Passanten im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab begegnen. Die Menschen mit dem größten Einfluss auf das System haben zugleich das geringste Interesse, etwas am System zu ändern und sich Erfahrungen außerhalb des Systems auszusetzen. Ohne neue Erfahrungen können sich aber Haltungen kaum ändern.
In so g. „unterentwickelten“ Ländern prägen blinde Bettler bis heute das Straßenbild. Dahinter steckt oft eine Augenkrankheit, durch die Menschen in Not und Abhängigkeit geraten und bedürftig werden. Der Anblick löst Mitleid und Ohnmacht aus: Selbst wenn wir einem blinden Bettler Almosen geben, was hilft das morgen und für so viele andere? Was können wir da schon ausrichten? Wenn wir überhaupt hinschauen, dann beruhigen wir unser Gewissen oft bestenfalls mit einer Spende.
Comfort Zone Challenge: Was kann ich gerade für dich tun?
Wenn wir statt dessen die tatsächlich gegenwärtig präsente Not wahrnehmen und hinhören, uns einlassen, kann das viel in der Gesellschaft verändern. Dass da jemand ist, der sich für die eigene Not interessiert, wirkt wie ein kleines Wunder. Und das ist die wahre gute Tat, die macht unmittelbar etwas mit uns. Sie verwandelt Leid in Anteilnahme.
Wir sollte viel öfter auch die, die mit ihrem Kummer zu uns kommen, fragen: Was kann ich gerade für dich tun? Vielleicht werden wir auch hier nicht viel tun können, außer Anteilnahme zeigen. Doch das kann schon Hilfe bedeuten. Und dafür müssen wir uns nicht von Marketingstrategien manipulieren lassen, sondern agieren aus unserer eigenen menschlichen Mitte heraus.
Statt einem Bettler eine Münze hinzuwerfen, begegnen Sie ihm auf einmal wie einem Freund – als Menschen mit Emotionen, auf Augenhöhe. Seien Sie offen, wie das Ihren Horizont erweitern kann und Ihnen selbst mehr gibt, als sie schenken. Füreinander da sein, präsent sein, kennzeichnen das Prinzip gleicher Augenhöhe. Doch die wahre gute Tat ist selten.
Lesen Sie dazu auch in unserem Blog “Klinikmarketing von innen nach außen – Patientenerfahrung“.