Für die Realisierung einer großen Vision braucht es neben der Mut und Kraft v.a. auch viel Ausdauer und Stringenz. Laura Esserman ist so eine mutige Frau mit einer großen Vision. Von Beruf Chirurgin und Lehrbeauftragte an der University of California. Ihr Vorbild kann inspirieren.*
Laura Essermans und ihre Vision der „Same Day Diagnosis“
Esserman ist bei ihren an Brustkrebs erkrankten Patientinnen wegen ihrer Empathie und Wärme geschätzt. Die Patienten sind durch die Verdachtsdiagnose Brustkrebs oft verunsichert. Dies wird durch das Prozedere, das auf den ersten Krankheitsverdacht folgt und das sich mehrere Wochen hinziehen kann, verstärkt. Wenn Brustkrebs entdeckt wird, wird i. Allg. operiert. Dann wird die Patientin zum Radiologen oder Onkologen überwiesen. Die Bestrahlungen und die Chemotherapien finden an verschiedenen Orten und an mehreren Terminen statt. Die Patientinnen werden von Arzt zu Arzt überwiesen, haben immer wieder quälende Wartezeiten zwischen den Untersuchungen. Oft ohne sofort die Befunde zu erfahren. Das Prozedere kann sich über Wochen und Monate hinziehen, während sich die Frau fragt: Überlebe ich das?
Der Ablauf und Umgang mit der Angst empörte Esserman. Sie entwickelte eine Vision, wie die Behandlungen der Patientinnen zeitlich koordiniert und aufeinander abstimmt sein könnten. Was wäre, wenn es eine Klinik für Brustkrebs gäbe, die alle Untersuchungen und Behandlungen unter einem Dach anböte? In die sich betroffene Frauen begeben und das Gebäude nicht verlassen, bevor sie die finale Diagnose erläutert bekommen haben? Was, wenn es ein Brustzentrum gäbe, in dem sich eine Frau, die sich Sorgen wegen eines Knotens in ihrer Brust macht, sich morgens vorstellt und noch am gleichen Tag ein verlässlichen Ergebnis hat. Entweder mit dem Wissen, dass der Knoten gutartig ist und kein Problem darstellt. Oder, falls er ein Problem darstellt, direkt mit einem medizinisch abgestimmten Behandlungsplan?
Anfangen und es tun
Das größte Hindernis bei der Umsetzung ihrer Vision war die mangelnde Zusammenarbeit der medizinischen Spezialisten und Abteilungen. Würde es gelingen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu verbessern, könnten die langen Wartezeiten und Hin- und Her- Überweisungen für die Patientinnen entfallen. Esserman hatte jedoch kaum finanzielle Mittel, nur ihre Kraft, Ausdauer und Klarheit. Daher fing sie mit kleinen Schritten an und nutzte ihre Möglichkeiten: ihre Hartnäckigkeit und ihre Fähigkeit, andere von ihrer Vision des Brustzentrums zu überzeugen und zu begeistern. Esserman gründete ein Brust MVZ und öffnete es zunächst einen Tag pro Woche für einige Stunden. Sie überredete die medizinischen Abteilungen zu einer integrativen Zusammenarbeit. Es brauchte einen langen Atem, um die tradierten und starren Prozesse zu flexibilisieren.
Im ersten Jahr blieb es bei einem Tag pro Woche. Als das Zentrum gut lief, stiegen die Patientenzahlen stetig an. Nach und nach machten weitere Ärzte mit, Pflegende sowie andere Mitarbeiter. Auf einmal waren alle gerne ein Teil der Story. Am Ende hatte das Brustzentrum so viel Erfolg, dass man Esserman eine ganze Etage im Krebszentrum anbot. Die bauliche Planung sah jedoch keinen Umzug der Radiologie vor. Das stand klar im Widerspruch zu Essermans Vision, „alles unter einem Dach“. So verzichtete sie auf über ein Drittel ihrer Fläche, um Platz für die Mammographie zu schaffen. Im akademischen Umfeld, in dem hart um jede Fläche gekämpft wird, war dies wieder ein gewaltiges Symbol: Esserman gab im Dienste der Sache einen Teil der knappen Flächen für Untersuchung, Behandlung und Forschung auf. Auch in deutschen Unikliniken wäre ein solches Angebot bis heute kaum denkbar.
Was nach 5 Jahren entstanden ist
Inzwischen ist das Zentrum weiter gewachsen und in eigene Räume umgezogen. Es nahm eine national führende Rolle in der Brustvorsorge und -forschung ein und entwickelte sich langsam aber stetig zu dem Ort, den Esserman als Vision vor Augen hatte. In 5 Jahren stieg die Zahl der Patientinnen auf mehr als 1.100 pro Monat an. Esserman beschreibt die Prozesse nach diesen 5 Jahren wie folgt: „Wenn eine Patientin ins Brustzentrum kommt, kann ich ihre Aufnahmen noch am selben Tag begutachten. Während sie im Untersuchungsraum sitzen bleiben kann, können wir eine Biopsie machen und mit einem medizinischen Stab aus Gynäkologen mit Fachgebiet Fruchtbarkeit, Psychologen und Berater für genetische Fragen zeitnah die Diagnose stellen. Die Patientin muss nirgendwo sonst hingehen und warten. Sie ist Mittelpunkt des Geschehens.“
Die Geschichte zeigt, dass Visionäre für die Realisierung Begeisterung und viel Ausdauer benötigen. In der Umsetzung werden täglich neue Herausforderungen sichtbar. Das bedarf v.a. Zeit. Wer diese Zeit nicht investieren will oder kann, wird mit seinen Ideen kaum sein Ziel erreichen. Menschen brauchen auf dem Weg des Wandeln immer wieder aktiv Impulse. Denn am Ende sind sie die vielen überzeugten Unterstützer, die den Erfolg bestimmen. So wie wie der Weg Moses mit seinem Volk ins gelobte Land. Wenn die Blickwendung vieler gelingt ist wahrhaftige Entwicklung möglich.
[*] Heath, C./ Heath, D. (2011): Switch – Veränderungen wagen und dadurch gewinnen. Frankfurt: Scherz-Verlag, S. 87ff.