Wieso lässt sich die Visite – allen voran die Chefarztvisite – als ein Spiegel der Kultur bezeichnen? Was macht die Visite heute als Regelkommunikation zum Dreh- und Angelpunkt der Organisation einer Station?
Visiten – Spiegel der Kultur
Die Chefarztvisite [1] gehört zum wichtigsten Ritual in der Klinik. Ein Ritual ist eine nach festen Gewohnheiten wiederkehrend ablaufende Handlung mit symbolischen Gehalt. Es ist gut, sich das klar zu machen. Denn Rituale haben eine enorme emotionale Macht. Sie können das Beharren eines Systems in Zeiten des Wandels bewirken.
Faktisch zelebrierte das klassische Visitenritual mit hierarchisch wohl geordneten Tross im Gefolge des Visitenarztes den Arzt als „Gott in Weiß” [2]. Der ein oder die andere haben es noch erlebt: Die Chefarztvisite wird wie eine Prüfung vor dem Patienten geführt, in der Korrekturen öffentlich erfolgen – damit alle lernen natürlich. Im Kern kommt dies einer Selbstinszenierung des obersten Verantwortungsträgers auf Kosten des ganzen Systems gleich. Mitarbeitende werden über Angst geführt. Sie lassen sich davon treiben, Sanktionen zu vermeiden und in der Gunst aufzusteigen. V.a. der Stationsarzt steht unter dem Druck der Rechtfertigung – es gilt, Behandlung, Ergebnis, Therapie, Erfolg und sich selbst korrekt und positiv darzustellen.
Der Chefarzt erfüllt dabei eine ritualisierte Leitung. Dabei werden Standards wie z.B. die Abfrage der Blutwerte abgehakt – eine offene medizinische Diskussion hat keinen Platz. Der Einzelne ordnet sich im System unter. Mitarbeiter sehen sich in Gesten des Chefarztes auf- oder abgewertet. Und der Chefarzt demonstriert dem Patienten, bei ihm in besten Händen zu sein. Vor dem Patienten ist die chefärztliche Korrektur jedoch auch ein negatives Urteil über die Expertise des behandelnden Arztes, das dessen weiteren Kontakt zum Patienten belastet. Der Gedanke an die Stellung in der Hierarchie, die Perspektiven in der Klinik sowie die weitere Karriere sind Aspekte, die den Arzt von einem Fachdialog abhalten.
Paradimenwechsel und Schaffen neuer Gewohnheiten
Wenn Mario Adorf mit über 80 Jahren, “Macht” als “Schwester der Gewalt” betrachtet, dann verweist auf das Defizit in der „Macht über“ Menschen in der „alten Welt“. Und auf die Ohnmacht der Geführten. Doch die Zeiten sind vorbei. Menschen wollen nicht als Objekte gesehen werden. Im Kulturwandel sind solche veralteten Rituale aufzubrechen, die das abzulösende Wertesystem stabilisieren. Rituale sind gemeinsam gepflegte Gewohnheiten. Sie werden nicht einfach vergessen, sie müssen aktiv mit neuen, anderen Gewohnheiten überschrieben werden. Ohne Orientierung wächst sonst nur die Unsicherheit. Was stattdessen? Es gilt also, sich der Frage zu stellen: Was ist die Anforderung an eine Visite in der „neuen Welt“?
Visiten werden zum Spiegel der Paradigmen. Aus der rituellen, symbolhaften Qualitätskontrolle soll ein dialogischer Prozess der Zusammenarbeit werden. Der dient der Organisation aller Beteiligten inklusive des Patienten (->Persiflage zur Patienten zentrierten Kommunikation). Der Patient wartet auf Diagnose und Behandlungsergebnis, bringt seine Ängste ein, erhofft sich Beruhigung, Klarheit, Sicherheit. Die Organisationsvisite ist auf das enge Behandlungsteam reduziert und so für den Patienten überschaubar. In ihr werden v.a. die weiteren Schritte abstimmt – so kurz wie möglich und so lange wie nötig. Sie ist in allen Phasen auf den Patienten bezogen, der sich autonom und gut beraten fühlt. Fachjargon und Fachdisput werden vermieden. Medizinische Auffassungen werden nicht in der Visite diskutiert. Die Visite wird als das genutzt, was ihr Name ausdrückt: als Besuch beim Patienten.
Tägliche Stationsvisite: kurz, verlässlich, effektiv
Die Chefarztvisite hat Vorbildfunktion für alle anderen Visiten auf Station. Durch die tägliche Visite findet ein stetiger Austausch von Arzt und Pflege und dem Patienten statt. Berufsgruppen übergreifend sind dabei Ablauf der Visite inkl. Vor- und Nachbereitung und gemeinsame Grundsätze klar abzustimmen. Orientierung kann eine “Checkliste Visitenstandard” bieten, z.B. zu
- Zeitfenster: “Die Visite ist straff organisiert, beginnt und endet pünktlich.”
- Teilnehmer: “Arzt und Pflege führen die Visite gemeinsam durch.”
- Inhalte: “Die Visite ist problem- und patientenzentriert.”
- Kommunikation: “Die Visite findet mit dem, nicht über den Patienten statt.”
Für eine stringente Zusammenarbeit gilt es auch die Aufgaben in der Vor- und Nachbereitung in den Blick zu nehmen. Wie etwa die folgenden Fragen:
Vorbereitung | Durchführung | Nachbereitung |
---|---|---|
Wie erfolgt die Kommunikation der Visiten- und Sprechzeiten? | Welche Spielregeln gelten (bspw. Anklopfen vor Betreten des Zimmers)? Wie werden Vertraulichkeit und Unterbrechungsfreiheit gewahrt? | Soll eine Tafelbesprechung zur Übergabe stattfinden? |
Wer prüft wann die Unterlagen auf Vollständigkeit? | Wann erfolgt die Dokumentation? | Soll Feedback gegeben werden? |
Wann wird der Visitenwagen von wem gerichtet? | Welche Punkte werden vor Betreten des Zimmers besprochen? Was wird mit dem Patienten besprochen? | Sind weitere Regelungen zur Ausarbeitung notwendig? |
etc. |
Es darf im Sinne der Organisation der Station allen klar sein, was in die Visiten gehört und was nicht.
Lesen Sie weiter zum “Management im Wandel: Von Medizinern und Managern“.
[1] Wir verwenden Personen- und Berufsbezeichnungen zur leichteren Lesbarkeit des Textes im generische Maskulinum als Oberbegriff und schließen damit explizit alle Geschlechter ein.
[2] Vgl. Degenhardt, J. (1998), Deutsches Ärzteblatt, Heft 47.