Friederike von Aderkas (2021): Wutkraft. Energie gewinnen. Beziehungen beleben. Grenzen setzen. Beltz Verlag, Weinheim, Basel.
Das Buch enthält viele inspirierende Impulse, sich wertschätzend mit seiner bewussten und unbewusste Wut auseinanderzusetzen. Im Folgenden statt einer Zusammenfassung einfach einmal einige kommentierte Gedanken:
Patriarchale Erziehung
Gerade die Erziehung von Mädchen prägte in der Vergangenheit ein Tabu beim Thema Wut (wie bei Jungs beim Thema Weinen). Ein angemessener Wutausdruck wurde in unserer Prägung durch Nichternstnehmen kindlicher Bedürfnisse oft von klein an unterdrückt. So tragen viele Menschen eine unbewusste Angst in sich, mit aggressiven Gefühlen abgelehnt zu werden. Sie fühlen sich schuldig, wenn „es“ doch mal aus ihnen herausbricht. Kommen verdrängte Gefühle dann ans Licht, sind sie häufig der Situation nicht angemessen, passen nicht ins Selbstbild und richten im schlechtesten Fall Schaden in Beziehungen an. Aus Angst vor dem zerstörerischen Potenzial unbewusst ausagierter Wut, beraube ich mich aber auch der lebensdienlichen Seite der Wutkraft.
Ich kann nicht selektiv ein Gefühl unterdrücken und andere weiter fühlen. So unterdrücke ich alle Gefühle und spüre mich nur noch gedämpft. Mein Leben wird kontrolliert und freudlos. Wo ich Gefühle aber unterdrücke und nicht mehr bewusst wahrnehmen kann, fließt mir Lebenskraft ab. Ich erschöpfe. Mich auf der Gefühlsebene zu sortieren und mir so meiner selbst bewusst werden, kann Zugang zu den eigene Bedürfnissen schaffen. Mich meinem Wutschmerz wieder zu nähern und die Schönheit des dahinterliegenden Bedürfnisses – etwa nach Verbundenheit und Gesehenwerden – zu entdecken, dafür plädiert die Autorin Friederike von Aderkas aus eigenem schmerzlichen autobiographischen Erfahren heraus eindringlich in ihrem Werk.
Was meine Wut mir sagen will…
Wut ist eine mächtige und potenziell unheilbringende destruktive Kraft. Wut kocht hoch oder staut sich lange Zeit auf, um scheinbar plötzlich wie ein Vulkan auszubrechen. Kein anderes Gefühl bringt so aus der Fassung. Kein anderes trübt so sehr den Verstand, und treibt in ihrer erschreckenden Dynamik zur Unbeherrschtheit, Raserei und Gewalttätigkeit. Sie kann wütende Menschenmassen mobilisieren, deren fehlende Anerkennung in den Wunsch nach Rache umschlägt; auf ihr Konto gehen Amokläufe und Attentate.
Jedoch hat Wut auch eine starke, konstruktive Seite: Wut zeigt, hier stimmt etwas nicht für mich. Das geht über meine Grenzen, erfüllt nicht meine inneren Bedürfnisse. Wut schützt Selbstachtung und Würde, ist gleichsam unser angeborener Gerechtigkeitssinn. Und Wut aktiviert zugleich die Kraft, aus meiner Mitte heraus, stimmig zu entscheiden und zu handeln. Sie ist Lebensenergie, die Regungen erzeugt und den Tatendrang befeuert. Oder wie von Aderkas selbst es schön ausdrückt: „Wut ist die Sehnsucht danach, bei dir anzukommen und sie schenkt dir die Kraft dazu.“ (S. 155). Der Ausdruck meiner Wut erlaubt es mir, meine Stimme zu erheben, meine Meinung zu äußern, Grenzen zu setzen und für mich einzustehen, um meinen Weg zu gehen, meinen Raum zu schützen und meine Ziele zu manifestieren. Daher ist Wut durchaus vernünftig, wenn sie sich vom Verstand lenken lässt.
Es gilt also die Wut zu hören und zu entschlüsseln. Weder sich von ihr umsouverän beherrschen zu lassen, noch sie zu unterdrücken. So werde ich immer authentischer und erhöhe mein Bewusstsein.
Depression – der Preis vom Bravsein und unterdrückter Wut
Unterdrückte Wut – gerade vermischt mit Traurigkeit, die loslässt und vom Handeln abhält – richtet sich auf Dauer gegen mich selbst. Impulskontrolle kostet Kraft und führt in die Depression. 20% der Beschäftigten in Deutschland kennen die „Volkskrankheit“ Depression aus eigenem Erleben als Zustand anhaltender Schwere und Resignation.[1] Marshall B. Rosenberg, Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, kommentierte dazu: „Depression ist die Belohnung fürs Bravsein“ (Gewaltfreie Kommunikation, S. 92). Oft leiden gerade Menschen darunter, die danach gestrebt haben, es stets perfekt und allen Recht zumachen. Die gut funktionierten – und dabei Erdung und Verbundenheit zur eigenen Mitte, den eigenen Bedürfnissen, verloren haben. Sie verbieten sich Aggression gegenüber anderen und agieren unbewusst umso gewalttätiger gegen sich selbst, verletzen ihren Selbstwert und nähren ihre Selbstzweifel.
Depressive Menschen können kaum zwischen schmerzlichen Emotionen Angst, Trauer, Wut, Frust, Schuld oder Scham unterscheiden und fassen, was sie fühlen. Sie scheinen in einem Cocktail an übereinander liegenden Emotionen zu schwimmen. Das hindert bei der Suche nach der Wurzel des Schmerzes. Um ins Fühlen zu kommen, darf ich wieder lernen, die Körperempfindungen wahrzunehmen, die der Fluss der Bewegungsenergie meiner Emotionen hervorruft. Ohne mir im Kopf eine Geschichte zu erzählen. Den Verstand soweit es geht ignorieren. Gefühle im Körper als Hitze, Weite, Spannung etc. zu fühlen, nicht im Kopf. Am Anfang zeigen sie sich oft nur sekundenweise. Es kann bei Depression helfen, sich Zeit zu nehmen, meine Traurigkeit und Wut separieren zu lernen – gerade auch weil sie jederzeit ineinander umschlagen können.[3]
Unbewusste Ausdrucksformen unterdrückter Wut
Wut regt sich – wie auch die Traurigkeit – meist, wenn Menschen oder Dinge sich nicht wie erhofft oder erwartet verhalten. Bei Regelüberschreitung anderer, Übergriffigkeit in Bezug auf unsere körperlichen Grenzen, Fehlen von Anerkennung und Wertschätzung, Begrenzung von Selbsterhaltung und -entfaltung. Auch wenn die Wut unterdrückt wird, sucht sie sich unbewusst Ausdruck:
- Explosiver cholerischer Ausbruch in einem Wutanfall, Anschreien, Herumbrüllen bis zu Gewalt und Zerstörungswut. Das unberechenbar Aufbrausende löst Verunsicherung und Zittern im Umfeld aus, schwere Verwundung oder gar Zerstörung – statt Verbindung und Klarheit zu schaffen.
- Aktionistisches Tun – statt die Wutkraft lösungsorientiert für sich einzusetzen
- Ausblenden des Geschehens und Ablenken (auch z.B. durch Essen, Arbeit, Sucht, Perfektionismus), um des lieben Frieden willens – statt echten Frieden zu suchen
- Sarkasmus, Zynismus, schwarzer Humor, Bloßstellen anderer – statt den eigenen Schmerz anzusehen
- Hintenrum ausgedrückte Aggression durch Klatsch und Tratsch, Lästern, Schuldzuweisung, Abwertung, Urteile über andere zur eigenen Selbstaufwertung – statt in die direkte Kommunikation zu gehen
- Pessimismus und Nörgeln – statt aus dem Gedankenkarusell auszusteigen und die Situation für sich zu verändern
- Schweigen oder Ignoranz bis hin zu völligem Rückzug, Kontaktabbruch, Schmollen – statt zu konfrontieren
- Passiv-aggressives Verhalten und Gewalt gegen sich selbst – statt liebevoll für sich zu sorgen
Alle acht Ausdrucksweisen sind der Situation nicht angemessen, sondern oft von der eigenen Wutgeschichte geprägt. Der meist unbewusst gewählte Wutausdruck ist oft die einzig verfügbare Bewältigungsstrategie. Da den Betroffenen einfach früh Gehorsamkeit und Folgsamkeit als Tugend beigebracht wurde und offener Widerspruch gegen die Erwartungen anderer keine Option gewesen ist. So war das Leben nach den Regeln anderer bestimmt. Darum gilt es, die eigene Prägung im Umgang mit der Wut aufzuarbeiten, um sich davon lösen und lebensdienlichere Verhaltensoptionen für die Zukunft schaffen zu können. Eine neue Welt öffnet sich, wenn bewusst wird, welche Gefühle aus meinem gegenwärtigen Denken und Fühlen kommen und welche aus alten Geschichten.[2] Ich kann mich fragen: Wie alt war ich – als dieser Wutausdruck angemessen war.
Bewusste Annahme der Wut
Schutz der eigenen Grenzen
Meine Wut gehört oft gar nicht dort hin, gegen den sie sich richtet, sondern ist ein Relikt alter Erfahrungen. Durch das Besehen können sich alte, noch unverarbeitete und unterdrückte Gefühle der Vergangenheit vollenden, heilen und auflösen. Es entstehen neue Möglichkeiten, künftig authentisch im Hier und Jetzt zu fühlen. Wut wie alle anderen Gefühle sind Botschaften des gegenwärtigen authentischen Selbst, die sofort verschwinden können, wenn sie durchlebt werden. Es gilt die wie eine Welle aufsteigende Wut schon in einem frühen Stadium wahrzunehmen und zu merken, wo noch alte Wut feststeckt. So stelle ich mich meinem Schmerz und lasse zu, das Gefühl intensiv und fein zu fühlen. Das macht mich immer feinfühliger und lässt mich entsprechend sanfter reagieren.
Gefühle begleiten uns in allen Situationen – oft unterhalb unserer Wahrnehmungs- oder Taubheitsschwelle. Tatsächlich bestimmen wir selbst maßgeblich, was wir fühlen, durch den Gedanken, denen wir folgen, und der Art wie wir die Umwelt wahrnehmen und sie bewerten. Wut ist ein Schmerz, für all das, was für mich nicht stimmt, wann ich über meine Grenze gehe. Es sind Erfahrungen nicht gewürdigter eigener Grenzen und unerfüllter Bedürfnisse. Wut bewusst wahrzunehmen, macht es möglich, den Boden unter den Füßen zu behalten, bei sich zentriert zu bleiben und sich wieder kraftvoll aufzurichten. Dann beginne ich auch zu spüren, was mir fehlt, um wieder in mein Gleichgewicht zu kommen. Je mehr ich auf meine Grenzen achte, desto leichter fällt es mir, präsent und mit mir und anderen in Kontakt zu sein, statt in falscher Verbundenheit, falscher Harmonie, Scheinfrieden.
Wahrnehmungsschwelle reduzieren
Je mehr wir Emotionen unterdrücken und nicht fühlen, desto höher rutscht die Taubheits- oder Wahrnehmungschwelle. Wir halten immer mehr aus, bis wir Schmerz überhaupt zulassen und fühlen. Die Aufmerksamkeit geht immer weniger ins Fühlen und mehr in die Bewertung, in Schuld- und Fehlersuche beim Gegenüber und in den Wunsch nach Bestrafung. Das Verdrängen ist Stress für unseren Organismus. Dies verkörpert sich in Körperhaltung, abnehmendem Körperbewusstsein, anhaltender Muskelspannung. (z.B. verhärteter Kiefer, verhärtete Bauchmuskeldecke). Und das beeinflusst die Feinheit unseres Empfindens. Mit einer verschobenen Wahrnehmungsschelle reagieren wir entsprechend spät und heftig auf Triggersituation, wenn die aufgestaute innere Not so groß ist, dass sie sich nicht mehr unterdrücken lässt.
Je mehr die Wahrnehmungsschwelle sinkt, desto leichter wird es, eigene Entscheidungen sanft und klar zu vertreten. Dann komme ich in den konstruktiven Ausdruck meiner Wutkraft. Ich lerne, mit unterschiedlichen Meinungen und Konflikten umzugehen, Spannungen auszuhalten und mit anderen in vitalem Kontakt zu sein. Ich lerne, mich nicht klein zu machen und nicht zu übergehen, wofür mein Herz schlägt. Zentrieren heißt, bei mir zu bleiben und die Aufmerksamkeit zur Körpermitte, zum Fühlen, zu bringen. So verbunden mit der Wut bringt sie mich ins Tun. Dann fühlt es sich gut an, mich für mich einzusetzen. Dadurch werden Beziehungen geklärt und lebendiger. Das ganze Leben wird mit weniger Anpassung, Unterwerfung, Gefühllosigkeit leichter und bunter.
Mich auch im Konflikt in meine Mitte zentrieren
Ein gesunder Wutausdruck, lässt geerdet sein, in Kontakt zum Körper und v.a. zum Becken, das die physische Körpermitte umschließt. Das kreiert Leben und Beziehungen voll Lebendigkeit, Präsenz und Freude. Der bewusste Wutumgang führt dazu, ganz bei mir, beim anderen und in der gemeinsamen Verbindung sein zu können. Ja sagen zu mir, zum anderen und zur vitalen Spannung, die zwischen uns entsteht und die Entwicklung unserer Beziehung fördert. Meine Meinung klar aussprechen können. Es nicht immer allen Recht machen. Dem anderen nicht immer das letzte Wort überlassen. Ich lerne, meine Konflikte konstruktiv zu klären. Ich lerne mich auch in Trigger-Situationen zu zentrieren und bei mir zu bleiben. Die Ursache meiner Wut liegt immer in mir selbst, meinen Bewertungen und der Unterstellung schlechter Motive beim Gegenüber.
Konfliktklärungen fördern Wachstum, indem wir unserem Fühlen, unseren Bewältigungsstrategien, unseren Bedürfnissen auf den Grund gehen. Je mehr ich mich selbst fühle, desto intensiver fühle ich auch den anderen und gestehe ihm seine Gefühle zu. Es wird echte Nähe möglich. So werde ich bindungs- und kooperationsfähig. Wenn Verbundenheit und Autonomie in eins zusammenfallen, öffnet das den Raum für Wandel und neue Perspektiven. Auch andere Menschen tun Dinge in der Regel zuerst für sich und nicht gegen mich. Wenn sich jemand über mich aufregt, hat das ebenso meist mehr mit ihm als mit mir zu tun. So reflektiert und zentriert brauche ich keine Dramaspiele mehr und kann willentlich aussteigen aus Täter/ Retter/ Opfer Dynamiken. Wut auf das Gegenüber hingegen lenkt mich von meinen wahrhaftigen Gefühlen und Bedürfnissen ab.
Die Schönheit hinter meiner Verletzlichkeit
In jeder Situation trage ich Energie in Form von Gefühlen in mir. Lasse ich sie ungehindert durch mich fließen, informiert mich mein Körper schon in niedriger Intensität über mein Empfinden. Und so wird durch die zunehmende Wahrnehmungsfähigkeit bei einer niedrigen Wahrnehmungsschwelle, das Leben ruhiger, entspannter, intensiver, tiefer. Ich mache mich berührbarer. Fühlen entschleunigt und verbindet.
[1] Vgl. https://www.deutsche-depressionshilfe.de/forschungszentrum/deutschland-barometer-depression zuletzt abgerufen 8.8.24).
[2] Clinton Callahan nennt unaufgelöste Gefühle der Vergangenheit Emotionen. Vgl. Clinton Callahan (2009): Die Kraft des bewussten Fühlens, 2009, Genius Verlag, S. 115. Es gibt unterschiedliche Definitionen zur Abgrenzung von Gefühle/ Empfindungen/ Emotionen.
[3] Gerade Wut und Traurigkeit lassen mich sehr intensiv fühlen, was mich in der Interaktion mit der Welt verstimmt oder berührt. Beides können Ressourcen sein. Vielleicht spüre ich Wut, meine Grenzen zu übergehen, niederschwellig am Aufkommen innerer Unruhe und Jucken meiner Haut? Und Traurigkeit darüber, dass es ist, wie es ist und uns etwas Essentielles fehlt, an Tränen und Feuchtwerden meiner Augen, am Ruhig- und Schwerwerden meiner physischen Körpermitte, meines Kraftzentrums? So mobilisiert Wut zum Handeln und Traurigkeit zu Rückzug, Nachdenken und Besinnung. Es sind lebensdienliche Kräfte, die der Transformation dienen. Ihre Überlagerung mit alten Kinder-Anteilen unseres verletzten Selbst in unterschiedlichen Altersstufen gilt es als gesunde Erwachsene aufzulösen, um präsent im Hier und Jetzt zu sein.
Friederike von Aderkas: Wutkraft. Energie gewinnen. Beziehungen beleben. Grenzen setzen. Beltz Verlag, Weinheim, Basel, 2021.